Nach dieser Vorstellung im Theater an der Wien braucht man ein paar Minuten, um sich aus dem Sog musikalischer und inszenatorischer Intensität zu befreien: „Peter Grimes“ von Benjamin Britten, in der Regie von Christof Loy aus dem Jahr 2015, musiziert vom ORF Radio-Symphonieorchester Wien unter der Leitung von Thomas Guggeis.
Hier ist ein Opern-Gesamtkunstwerk gelungen, in dem alle Komponenten so ineinandergreifen, dass ihre Wirkung auf weit mehr beruht als auf der Summe aller gelungenen Teile. Musik, Handlung, Stimmen der SolistInnen, des Arnold Schoenberg Chors, Orchester, Schauspiel und Ausstattung harmonieren ideal und ergeben einen fordernden und beeindruckenden Opernabend.
Fünfzehn Jahre lang bereichert das Theater an der Wien unter der Leitung von Roland Geyer nun schon das Opern-Leben dieser Stadt mit speziellen Werken und Inszenierungen, sowohl im Feld der Alten als auch der Neuen Musik. Dieser „Peter Grimes“ erfuhr eine Neueinstudierung dank des Publikums, das ihn unter die drei beliebtesten Produktionen gewählt hatte. Christof Loy ist ein verdienter Stamm-Regisseur am Haus, und diese Inszenierung zählt zu seinen besten. Erstens hat er einen klaren dramaturgischen Fokus gesetzt, Brittens Homosexualität, die im Werk immanent angelegt ist. Das ist zwar naheliegend, jedoch konnte etwa 1996 Christine Mielitz in ihrer Inszenierung von „Peter Grimes“ an der Wiener Staatsoper damit noch nicht reüssieren, auch wenn das ihr Vorhaben war. Heute wäre fast das Gegenteil - es nicht zu thematisieren - seltsam.
Und so wird der Fischer Peter Grimes, grandios gesungen und gespielt von Eric Cutler, hier als schwul gezeichnet, was in einer konservativen englischen Dorfgemeinschaft im frühen 19. Jahrhundert die gesellschaftliche Isolation bedeutete. Jedoch ist das nicht offengelegt und Grimes wird in erster Linie seines rüden Verhaltens wegen zum Außenseiter, das natürlich in diesem Problem seine Ursache hat. Zwei junge Burschen kommen zu Tode, die in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihm gestanden waren, und so kommt es zur kollektiven Jagd einer autoritären Gesellschaft, die den Verzweifelten, der diese Taten nicht begangen hat, schließlich in den Selbstmord treibt.
Die spät-veristischen Elemente des Dramas (Uraufführung 1945 im Sadler’s Wells Theatre) haben manche Inszenierungen in realistischer Spielweise betont, jedoch geht Loy einen anderen Weg und arbeitet reduziert und mit klarer Personenführung. Die Bühne verläuft schräg aufwärts nach hinten zu und ist von schwarzen Prospekten begrenzt. Ganz vorn am Bühnenrand ist ein Bett montiert, das sogar über den Orchestergraben hängt und während der ganzen Vorstellung auch dort bleibt. Darin liegt Peter Grimes anfangs lethargisch wegen der Folgen des ersten ungeklärten Todesfalles seines Lehrlings. Ansonsten gibt es nur Sesseln auf der Spielfläche, die von den Sänger*innen des Arnold Schoenberg Chors immer umplatziert werden. Diese sind fast immer in großer Zahl auf der Bühne und so entsteht eine große Dynamik, die das musikalische Geschehen unterstützt. Verstärkt wird diese Wirkung durch die präzise Gestik und Proxemik aller auf der Bühne befindlichen SpielerInnen, was eine tolle Leistung von Regie und Choreografie (Thomas Wilhelm) ist.
Auch die Kostüme (Judith Weihrauch) sind gut gewählt. Es handelt sich um gegenwärtige Alltagskleidung, wobei die Farben grau und blau dominieren, mit gelegentlichen Akzenten in grün, rot oder rosa. Nur Peter Grimes ist beige und weiß gekleidet und zudem meist barfuß. Struktur gibt auch das Lichtkonzept (Bernd Purkrabek), das den ganzen szenischen Vorgängen zusätzliche Plastizität gibt. Sängerisch beeindruckt vor allem Hauptdarsteller Eric Cutler als Peter Grimes, dessen Tenor eher in das Belcanto-Fach passt. Doch bewältigt er diese fordernde Partie ausgezeichnet und weiß ihr eine spezielle Note zu geben. Zudem überzeugt er auch als intensiver Schauspieler, bei dem jede Bewegung sitzt.
Die anderen SängerInnen sind ebenfalls gut besetzt, wie etwa Agneta Eichenholz als Ellen Orford oder Rupert Charlesworth als Methodist. Doch eigentlich gilt das für alle, und auch Tänzer Gieorgij Puchalski passt gut ins Geschehen, der als Grimes‘ zweiter Gehilfe eine stumme Rolle hat. Dirigent Thomas Guggeis leitet das RSO Wien präzise und verschafft dem Bühnengeschehen den perfekten musikalischen Rahmen, rhythmisch und klanglich hervorragend. Insgesamt ist es eine bewegende Inszenierung, deren Nachwirkung auch am nächsten Tag anhält. So etwas ist selten.
"Peter Grimes" am 18. Oktober 2021 im Theater an der Wien. Weitere Vorstellungen am 23. und 25. Oktober 2021