Der ISIS-Krieger dreht seine schwarze Montur um, darunter ist ein Regenbogen T-Shirt. Und er beginnt zu tanzen. Diese Szene ist bezeichnend für ein Stück, das Identität als fließend und unbestimmbar versteht und daraus ein beeindruckendes Tanztheater macht, eine sensible und berührende Auseinandersetzung, an der an der Seite von Regisseurin Corinne Eckenstein eine Gruppe von Performern aus Afghanistan und dem Irak gewirkt haben.
Dem Krieg sind sie entronnen, doch der Kampf mit sich selbst beginnt gerade, die Suche nach dem neuen Ich dauert an. Das Trauma der Flucht, die Angst, die Panik wird abgelöst von Hoffnung auf eine neue Wirklichkeit, vom humorvollen Umgang miteinander, aber auch von der anhaltenden Forderung sich zu integrieren. Während gleichzeitig die kulturellen Referenzen der Vergangenheit immer wieder ins Bewusstsein flashen: die Burka, der orientalische Glitzerlook (Kostüme: Kareem Aladhami), die Gewalt. Wie im Traum reiht sich ein Bild an das nächste und vermittelt eine Welt, in der sich alte und neue Erfahrungen vermischen, verändern. Das flexible und einfache Bühnenbild von Hawy Rahman erlaubt eine schnelle kontextuale Verwandlung und fließende Übergänge zwischen den Szenen.
Der Probenprozess begann mit der Frage, warum sich junge Männer eine Kalaschnikow auf ihren Körper tätowieren lassen. Doch nach Monaten der gemeinsamen Arbeit, passt der reißerische Titel „Kalaschnikow, mon amour“ eigentlich gar nicht zu dieser eindringlichen Inszenierung, in der vieles angesprochen und doch nichts plakativ ausgeschlachtet wird. Die Kalaschnikow ist ein ausgestreckter Arm mit Schusshand, die einmal lautlos trifft, oder ein anderes Mal ganz beiläufig in eine andere Geste übergeht.
Am Ende werden sie in der aufgeschütteten Erde baden und diese wieder abduschen. Eine treffende Metapher für den Prozess des Wandels, den Ali Reza Askari, Javid Hakim, Ahmad Hazara, Iliya Hosseini, Jasir Karimi und Morteza Mohammadi so überzeugend vermitteln.
Einige von ihnen kennt man bestens von „Tanz die Toleranz“ (TdT). Sie haben vielleicht schon im Flüchtlingslager Traiskirchen, eine ihrer ersten Stationen in diesem Land, mit dem Community Dance Projekt Tanzerfahrung gesammelt. Einige haben über Jahre im TdT-Programm mitgewirkt, mit Monica Delgadillo, Romy Kolb und anderen auf die zweimal im Jahr stattfindenden Aufführungen in der Brunnenpassage oder im Kulturhaus Brotfabrik hingearbeitet. Andere waren vielleicht in der „Johannespassion“ im MuTh dabei. Jedenfalls war der Anteil der männlichen Tänzer bei TdT immer auffällig.
Corinne Eckenstein hatte also für diese "ko-kreative" Dschungel-Eigenproduktion einen Cast von jungen Männern mit einer soliden Trainingsgrundlage und dem Wissen um künstlerische Qualitätsstandards. Sie sind sicher im Auftreten und haben Bühnenpräsenz. Sie mögen aus ihrer eigenen Erfahrung schöpfen, doch was sie repräsentieren ist weder privat noch persönlich. Diese Identitätssuche wird nie banal oder gar klischeehaft.
Das Ergebnis ist ein körperbezogenes Theater, das sich zwischen Tanz und Martial Arts Moves entfaltet. Man verlässt sich darauf um die jugendliche, virile Verletzlichkeit und Stärke zum Ausdruck zu bringen. Die wenigen Texte geben da und dort einen Hinweis, den man über die Bewegung nicht zu erzählen vermag. Zentral in diesem Stück ist hingegen die wunderbar darauf komponierte Musik des jungen Karrar Al Saedi, die die Verbindung der westlichen und orientalischen Welt kongenial in Klängen widerspiegelt.
„Kalaschnikow, mon amour“ am 9. November 2021 im Dschungel Wien. Nächste Vorstellungen am 28., 29. und 30. März 2022.