Nach knapp zwei Stunden Theorie mit anschließend recht prominent besetzter Panel-Diskussion unter der Überschrift „Dance & Uprising“ sowie der äußerst harten Kapitalismuskritik der Philosophin Eva von Redecker, waren im TQW zwei inhaltlich durchaus korrelierende Soloarbeiten zu sehen: „Ayur“ des gebürtige Marokkaner Radouan Mrziga und „Precarious Moves“ des Wieners Michael Turinsky.
Radouan Mrziga: „Ayur“
Geboren 1985 in Marrakesch, lebte und arbeitete Radouan Mrziga von 2017 bis 2021 in Brüssel (Artist in Residence am Kaaitheater), von 2021 bis 2025 ist er Artist in Residence bei deSingel in Antwerpen. Mit "Ayur" schuf er den zweiten Teil einer Trilogie, in der Frauen als Bewahrerinnen des überlieferten Wissens der Imazighen (eine Sammelbezeichnung für die indigenen Völker Nordafrikas, allgemein bekannter als Berber) fungieren.
Die dreiseitig umsessene Bühne der Halle G wird dominiert von einer Konstruktion aus Dreiecken. Wie ein schützendes Dach erzählt sie als Teil einer Kugel-Oberfläche noch viel mehr von einem Teil der Welt, und von dieser als einem zerbrochenen Ganzen. Die gebogene Bodenlinie dieser maximal stabilen Architektur, fortgeführt in einer kreisrunden Linie auf dem Bühnenboden, verblasst irgendwo, nachdem sie viele von sich kreuzenden Geraden geschnitten hat. Hier werden nicht nur die Fundamente einer uralten, erfahrungsbasierten Kultur zerstört von der Stringenz einer datenbasierten Moderne. Der vielfältigen Fragmentierung des modernen Menschen- und Lebensbildes, der Entwurzelung, Denaturierung und dem Verlust jeglicher Spiritualität in der (Post-)Moderne, der Substituierung von Erfahrung durch lineares Wissen und der Destruktivität patriarchaler Herrschaftsstrukturen stellt Mrziga eine Frau gegenüber.
Tanit, die Schutzgöttin des antiken Karthago, Fruchtbarkeit und den Mond als das weibliche Prinzip symbolisierend, inspirierte ihn zu dieser 2019 uraufgeführten Arbeit, die hier als Österreichische Erstaufführung zu sehen war. Gemeinsam mit der international tätigen tunesischen Schauspielerin und Tänzerin Sondos Belhassen, die dieses Solo performt, kreierte er einen Tanz, der sich wie ein Zwiegespräch mit Vogelgezwitscher, Musik, Sound, mit der von Belhassen live gesprochenen Sprache und ihrem Gesang entwickelt. Das Arabische ihrer Worte bleibt wohl den meisten Mitteleuropäern verschlossen, die archaisch anmutende Symbolik vieler ihrer Hand- und Armgesten ebenso. Was aber spürbar wird ist die kompositorische Verbindung von akustischen und Bewegungs-Rhythmiken.
Sondos Belhassen, sie war in Tunis Mrziga's Tanzlehrerin, bindet in ihrem Tanz Archetypus und Moderne. Sie imitiert Tierbewegungen und Arbeitsgesten, tanzt Geometrisch-Skulpturales, Fließend-Weiches und Drängend-Sportives. Schutz und Stärkung scheint sie unter dem Dach (ihrer kulturellen Wurzeln) zu finden. Es außen in großem Kreis zu umrunden ist wie eine Einverleibung in sich selbst und in die Welt. So wie der Tanz auf den Geraden und der am Ende eingespielte arabische Gesang mit percussivem Unterbau wie ein Ausbringen von Vergessenem in die Gegenwart und Zukunft erscheint.
Selten entsteht eine Choreografie in ihrer Gesamtheit erst mit der Nacharbeit an einem Stück. Die Programmzettel enthalten neben dem Hinweis auf "Text als Partitur" und eben nicht zu verstehen als Basis für illustrierende Bewegung die Übersetzungen von acht Gedichten und Rap-Texten, geschrieben von Lilia Ben Romdhane und Mehdi Chammem aka Massi, von dem auch die Musik stammt. Diese Texte in ihrer deutschen Übersetzung aus dem Englischen, dorthin übertragen aus dem Arabischen, vermitteln nur noch eine Ahnung vom metaphorisch-poetischen Duktus der Originale. Gemeinsam mit der Erinnerung an den Tanz, die Bühne, das Licht, den Klang der live gesprochenen Worte und den Sound erwächst ein Ganzes, dessen Poesie aus der Verbindung von einer uns Mitteleuropäern meist nicht vertrauten Tradition und der Moderne, aus Mythologien, Utopien und deren Widerhall in uns entsteht.
Michael Turinsky: „Precarious Moves“
Ein großes Tuch hinten auf der Studio-Bühne trennt einen Backstage-Bereich ab. Und es dient als Leinwand für die Projektion des englisch gesprochenen Textes, in englisch und deutsch. Und für „The Tree“, „The Wood“ und „The Wind“, die Überschriften der drei Teile, in die der spastisch gelähmte Wiener Choreograf, Performer, Philosoph und Theoretiker Michael Turinsky seine hier erstmals live vor Publikum aufgeführte Arbeit gliedert. Coronabedingt wurde sie schon vor vielen Monaten als Video produziert und bereits im Jänner 2021 online uraufgeführt.
„The Tree“. Sie rollen herein. Er auf seinem Rollstuhl und der Barwagen, den er vor sich her schiebt. Er begrüßt das Publikum. „Hi. Ich brauche etwas Tonic. Das ist gut für die Muskeln. Bin gleich wieder da.“ Mit dieser Selbstironie betritt er sofort die Ebene, auf der er eine ganze Weile agieren wird. Und er macht gleich weiter. Aus seinem Liebesbrief an den Kommunismus wurde nichts. „Der war nicht mehr en vogue. Statt dessen an den Sozialismus? Der kann aber, laut Jorge Riechmann, nur mit dem Fahrrad kommen. Und ich nur mit dem Rollstuhl. Schlussfolgerung: Konzentration auf seine Behinderungen. Weil es so viel leichter ist.“
„Die Beziehung zwischen meiner Geste und der Umgebung ist fremd, prekär.“ Und er fragt, ob es ihn/uns kümmert, was hinter der eigenen Nische liegt, also das Milieu der Anderen. Die hölzerne Spielzeug-Eisenbahn zu bauen bereitet ihm einige Mühe. „Ups!“ Die „8“, oder eher wohl das „∞“ schließt sich fast ganz. „Was bedeutet es, sich als behindert zu identifizieren?“ „Crip“ wird zum Widerstand gegen spezifische Formen von Mobilisierung. Und über Choreografie: Organisation versus Mobilisation. Er glaubt an Bewegung im Einklang mit sich und anderen Organismen. „Das gilt es zu organisieren.“ „Und dann mit vereinten Kräften vorwärts gehen!“ Er baut eine Brücke. Für die Eisenbahn. Schließt das „∞“. „Almost.“ Sagt er lächelnd. Und zerstört die Bahn. Wonach wir uns sehnen? „Nach Freiheit der Bewegung.“ Das Boot aus Papier in der Tonic-gefüllten Schale. Er pustet es an den Rand.
Zu „The Wood“ fährt er ein mit dem Kinder-Elektroauto. Er singt mit vielen Wiederholungen, gestützt vom Auto-Pitch: „Ich falle. Ich fahre. Ich fühle. Ich tauche. Ich bin ein Krabbler, ein Rollender, Liebender. I'm on fire! Ich bin ein Flieger.“ Neben dem Auto stehend: „I'm a lier.“ Ein Liegender. Oder doch „liar“, ein Lügner. Er steigt wieder ein. „Ich bin ein Mann. Ich kann!“ Und er fährt schnell seine Runden im wummernden Sound. Das berührt ungemein. Weil es schon lange nicht mehr nur um ihn geht.
Auf seinen Knien hockt er, den Rücken uns zugewandt. Stille. „The Wind“ Er beugt sich langsam vor und auf, kreist den Oberkörper, der Sound pulsiert. Klavierklang dazu, die Arme öffnen sich, er dreht sich uns zu, kreist den Oberkörper mit ausgebreiteten Armen, rutsch auf seinen Knien auf uns zu, verdeckt das Gesicht mit den Armen, leidet. Ihr seht mich nicht. Er dreht sich auf der Stelle, wiegt sich im Liegen. Er tanzt etwas wie den Balztanz eines Schwanes. Dissonanzen. Er steht auf, geht in der Stille wackeligen Schrittes rückwärts auf seinen Rollstuhl zu, setzt sich und fährt ab.
Michael Turinsky spricht in dieser 70-minütigen Performance auch von „crip time“. Mehrdeutig lesbar meint sie den zeitlichen Mehraufwand mit einem eingeschränkten Körper, aber auch eine verkrüppelnde, lähmende, zerstörende Zeit. Der sich in seiner Person manifestierende Konflikt zwischen einem hellwachen, gewitzten und so klug reflektierenden Geist und einem widerständigen Körper, der den Diktaturen von Geschwindigkeit, Effizienz und Perfektion ihren a-sozialen, materialistisch-entmenschenden Charakter spiegelt, wird zum Politikum. “What if our fetishization of speed is rooted in a certain sense of social stagnation?”
„Precarious Moves“ zeichnet Visionen einer Zukunft, die gegenwärtige Gefüge zerschmettern. Wo Effizienz zum Götzen und Selbstoptimierung zur bürgerlichen Pflicht ward, scheinen deren ideologische (Ab-) Gründe verfestigt. Die spastische Lähmung mit dem sie kennzeichnenden erhöhten Muskeltonus mag als symbolisches Symptom für eine unter ungesund hoher Spannung stehende Gesellschaft stehen. Perfektion ist ein Trugbild. Sie anzustreben ignoriert das Leben.
„Do the locomotion“ dröhnt im hellen Licht. Er rollt an die Bar, trinkt einen Schluck, steht auf und verbeugt sich. Das ausverkaufte Studio des TQW gab mit langem warmem Beifall ein wenig von dem zurück, was es empfangen hatte.
„Precarious Moves“ ist übrigens in der Kategorie „Beste Off-Produktion“ für den NESTROY-Preis 2021 nominiert.
Michael Turinsky mit "Precarious Moves" und Radouan Mrziga mit "Ayur" am 12. und 13. November 2021 im Tanzquartier Wien.