Die sechste Ausgabe des in Österreich einzigartigen Tanzfilmfestivals gab innerhalb von drei Tagen Gelegenheit, annähernd 50 ausgewählte Screen Dance-Produktionen zu sehen (für die fünfte Edition im Juni gab es dafür mehr als 300 internationale Einreichungen). Bietet diese Kunstform, die allein im intensiven künstlerischen Zusammenspiel von Tanz und Film entstehen kann, einen Mehrwert gegenüber den beiden tradierten Einzelmedien?
Bei jedem der nunmehr sechs von Valentina Moar initiierten und seit 2016 von ihr kuratierten Festivals konnte diese Frage mit Ja beantwortet werden. Bei dieser Ausgabe hat sie vielleicht noch mit mehr Aussagekraft, da in ihr erstmals auch Langfilme bis zu 90 Minuten Spieldauer zu sehen waren.
Was die Performance des Festivals allgemein betrifft, ist von immer größerer Professionalität und publikumsadäquaterer Präsentation zu erzählen. Sie beginnt beim medialen Auftritt im Vorfeld, wo mittels gut aufbereiteter Trailer informative Eindrücke vom Programm geboten wurden; sie betrifft das aufwendige Booklet, in dem zu jedem der gezeigten Filme Fotos so wie Eckdaten und inhaltliche wie den Hintergrund betreffende Informationen nachzulesen sind; und sie geht bis zur thematischen Gliederung des Festivals, was bei einem derart umfangreichen Kunst-Angebot die individuelle Auswahl nicht nur erleichtert, sondern auch anregt: Das Hauptprogramm am Abend, „Dancefilm Poets“, bestand zwei Mal aus je zwei Langfilmen, am Sonntag dann aus acht kürzeren „Schätzen“ (Marco Schretter, Co-Direktor) sowie der gleichen Anzahl an rückblickendem Best Of- Produktionen. Retrospektiven leiteten auch die Nachmittage ein, an denen weiters inhaltlich gruppierte „Specials“ folgten: „Dance meets Architecture: ‚Body-Buildings‘“, „Dance against social injustice: ‚Moving Stories‘“ und „Breakdance and Urban Dance“.
Weltmeister …
Aus diesem letzten Block sei „Espectaculo Rotina“ herausgegriffen: Weil die Vorführung des brasilianischen Films von Allan Barbosa „Mixa“ eine (in dieser dance on screen-Edition einzige) Weltpremiere darstellte. Und vor allem, weil diese Verfilmung ein Paradebeispiel dafür ist, welch Bewusstmachung die unserer Zeit immanente Vielfalt an Qualitäten die Verbindung von Tanz und Video in eben dieser Kooperation bieten kann. Zwecks atmosphärischer Einbettung der Lebenswelt der hier agierenden Weltmeister im Breaking, der „Funk Fockers“, bieten filmisch festhaltende Drohnenflüge Wiedergaben von Perspektiven auf und in ihre Großstadt, die den Atem stocken lassen. Weiters zeigen unzählige Ortswechsel ihre Alltagswelt und schließlich ideenreich Darstellungen von SMS-Kontakten ihre ureigene, junge, digitale Welt der Gegenwart. Grandios sind die filmisch wie choreografisch hochkreativ gestalteten, tänzerisch-akrobatisch Performanceszenen.
In einer konträren Welt des Tanzfilms ist „Coup de Grace“ (NL 2011) von Clara Van Gool anzusiedeln; qualitativ reichen sie einander in ihrer Ausnahmeposition allerdings die Hände – wenn ein Vergleich überhaupt statthaft ist. Unvergleichlich ist aber jedenfalls die ruhige, fingerspitzenfeine Ziselierung der filmisch gestalteten Darstellung zweier gegensätzlicher Männer, die wiederum in ihrem körperlichen Agieren, mimisch wie tänzerisch von kaum zu überbietender Ausdrucksstärke sind. Mit verwoben in diese einprägsamen Bilder des Zusammentreffens und physisch wie psychisch Aufeinanderprallens zweier ehemaliger Freunde ist ihre Umgebung, bestehend aus dramatischen Naturbildern und ebensolcher Architektur – im Kontrapunkt zu luxuriöser, fast heimeliger Innenausstattung. Da ist nichts dem Zufall überlassen, um das zu erreichen, was Gool anstrebt und auch überzeugend gelingt: Das Einfangen von symbiotischer Energie der beiden Medien.
… gegen die Schwerkraft
Wiederum von höchster, doch ganz anderer Strahlkraft sind die Herausforderungen, denen sich der Tänzer -Choreograph und Akrobat Yoann Bourgeois gemeinsam mit Luise Narboni in „The Great Ghosts“ stellt: dem Kampf gegen die Schwerkraft - am Trampolin, auf einer Drehscheibe und auf seiner „Wippe der Frivolität“; im Netz von Gleichgewicht und Bewegung, getragen von poetisch-philosophischen Texten, die tief greifen, gerade auch in dieser, unserer Zeit: „Die Welt kommt nicht zur Ruhe, kann sich nicht erholen vom Sein.“ Abrundend ist, dass bei aller imponierender Akrobatik auch Zwischenmenschliches, wenn auch eher marginal, seinen Platz findet,
Enigmatisches …
Zutiefst Menschliches, nämlich des Menschen verborgenste Träume und Fantasien, Wünsche, heimliche Gedanken, Instinkte und Ängste sind es, die in einer überbordenden Bilderflut, einem Mix aus Performativem, Getanztem und Dargestelltem, Unterschiedlichstes individuell assoziieren lässt und im Film „Blush“ über den Zuseher schwappt. Faszinierend und berührend in einigen, abstoßend und auch langweilend, weil klischeehaft, in anderen Szenen. Tänzer-Choreograf und Filmer Wim Vandekeybus spaltet zweifellos bei der Rezeption dieser exzessiven, brutal-zärtlichen Tour de force der Emotionen; gleichgültig lässt er kaum jemanden. Die Frage, warum diese Verfilmung als Tanzfilm fungiert, sei allerdings erlaubt.
Und dies gilt auch - bei allem Anerkennen seiner feinfühlig suchenden Ungewöhnlichkeit - für „Ma“ von Celia Rowlson-Hall. Von ruhiger Rätselhaftigkeit ist der 2015 in der USA entstandene, fast eineinhalbstündige Film geprägt, Das Frau-Sein ist sein Sujet; das über Jahrtausende Ungesagte und Ungefragte wird fokussiert, ohne dabei schutzlos in den Mittelpunkt und damit bloßgestellt zu werden. Vieles bleibt immer noch ungefragt, noch mehr unbeantet.
… und Exotisches
Unbegreifbar für das Wissen in unserem Kulturkreis, wenn auch in ganz anderer Hinsicht, auch das, was Marlene Milar und Philip Szporer in BHAIRAVA 2017 in Indien filmisch feinfühlig und zauberhaft festhalten konnten: dank der wunderbaren tänzerischen Interpretation von Shantala Shivalingappa. Tief verwurzelte Schönheit von Bewegung voller Ausdrucksstärke, eingebettet in entspannende Rhythmik der Musik (Ramesh Jetty). Ein Angebot, in das man sich nur hineinfallen lassen kann.
Um die Bandbreite dieses vielfältigen Mediums, das dank dieses Festivals ein klein wenig an Bekanntheit gewinnt, bewusst zu machen, sei noch der sechsminütige Film „Love Me; Fear Me“ von Veronica Solomon angeführt. Mit viel Humor und Ironie setzt er sich über formale wie inhaltliche Metaphern mit unserem alltäglichen Rollenspiel auseinander. Unerwähnt darf aber auch nicht der Dokumentarfilm „Moving Stories – Lives Transformed by Dance“ von Rob Fruchtman u.a. bleiben. Nährt er doch eindringlich die Hoffnung, dass Kunst, dass Film und Tanz etwas bewegen und ändern können.
DANCE ON SCREEN, 12., 13., und 14. November 2021, Space 04, Kunsthaus Graz