Was in Wirtschaft und Verwaltung politischer Wille und ökonomische Notwendigkeit ist, zeigt sich auch im Privaten als ein Gebot. Hier aber vor allem, um wenigstens partielle soziale Isolation zu umgehen. Digitalisierung ist unumgänglich. Und was macht sie mit uns? Dieser Frage stellen sich Leonie Wahl und Desi Bonato in ihrem Stück „AnotherR“. Fesselnd vom ersten Augenblick an.
Die Tänzerin und Choreografin Leonie Wahl (orgAnic reVolt) konzipierte dieses gemeinsam mit Desi Bonato choreografierte Stück als Einheit von Tanz, Visuals und Musik. Zentrales Requisit sind Attrappen von so genannten VR- (Virtuelle Realität) Brillen. Der elektronische Sound von Bernhard Fleischmann, mit VR-Brille tastet er sich an seinen Tisch in der Ecke hinten, im Sitzen groovender Co-Performer fortan, treibt von Anbeginn mit viel dröhnendem Beat.
Die zwei Tänzerinnen torkeln auf die Bühne. Ihrer selbst unsicher, taumeln sie benommen, mit viel Dynamik durch den weißen Raum, setzen die Brillen auf, staunen mit offenem Mund, wie hypnotisiert. Hinter ihnen auf der großen Leinwand erscheinen fließende Muster. Die Gier nach der aufregend neuen, anderen Welt wird sofort geweckt. Sie versuchen, sich in dieser zurecht zu finden, begegnen sich in überraschenden Berührungen. Ach ja, richtige Menschen, Wirklichkeit, gibt es auch noch.
Sie erzählen von den körperlichen, geistigen und seelischen Konditionierungen vor, während und nach dem Betreten dieser anderen, unwirklichen Welt. Getapte Körper-Regionen deuten auf die befremdete Reaktion einer hüben wie drüben entfremdeten menschlichen Psyche. Weil jedes dort ungelöste Problem irgendwann ins Körperliche fällt.
Sie tanzen eine Geschichte. Die von der Unsicherheit in und Unzufriedenheit mit dieser Welt, doch die Welt ist nur ein Spiegel, in dem wir uns selbst entdecken können, von den Verlockungen der anderen, so bunten und in ihren Möglichkeiten scheinbar grenzenlosen Welt, vom anfangs unreflektierten, widerstandslosen Sich-Dreingeben und Fallenlassen, davon, wie sie sich adaptieren und wie sie nach und nach Besitz ergreift von ihnen und Teil ihrer selbst wird, vom Verfallen- und Verlorensein, von der Isolation und Vereinsamung, von Last und Lust, Fluch und Segen der künstlichen Welten. Die Zwei sind zwei verschiedene Charaktere. Die Eine, Leonie Wahl, beginnt, ihre Ausflüge und deren Wirkung auf sie von außen zu beobachten und zu reflektieren. Zweifel keimen. Die Andere, Desi Bonato, gibt das Opfer. Überfordert, erlegen, gefangen, erschöpft.
Hier kommen die kongenialen Visuals von Jakob Hütter, auf die rückwärtige Leinwand gebracht, zu einem ihrer Highlights. Aus dem Schwingen der Strings, die aus frequentiellem Allerlei Materie gebären, entsteht Form und Sinn. Manchmal scheinen auf der Leinwand zerfaserte DNA-Splitter zwischen den Geraden und Linien zusammenzufinden, um dann in deren Stringenz als Bruchstücke orientierungslos umher zu irren. Ein starkes Bild für die tiefgreifende Erosion des Menschlichen im Allgemeinen und des Individuell-Persönlichen im Besonderen. Die Projektion fließt unmerklich von der Leinwand auf den Bühnen-Boden, wo sie sich ausbreitet, schließlich das Fundament unterwandert, auf dem sich die Tänzerinnen bewegen. Und sie nähert sich dem gegenüber sitzenden Publikum. Fast unmerklich.
Wie anspruchsvoll die Choreografie ist, zeigen die beiden auch in vielen synchronen oder dem Anderen folgenden Passagen, in Spiegelungen, Symmetrien und Parallelitäten. Soziale Wesen in beiden Welten. Die beiden Tänzerinnen leisten Enormes. Die Choreografie verlangt ihnen physisch und koordinatorisch viel ab. Die dunkel verglasten VR-Brillen-Attrappen schränken das Gesichtsfeld erheblich ein und erschweren, für das Publikum kaum spürbar, die interne Abstimmung. In ihren individuellen wie den Duett-Sequenzen zeigen sich Leonie Wahl und Desi Bonato als herausragende Tänzerinnen. Sie bestechen mit beeindruckender Physis, Ausdrucksstärke und emotionaler Klugheit.
Am Ende, zurück in der Wirklichkeit, sinkt die Eine zuckend zu Boden. Die Andere scheint stehend sich zu fragen, wo und wer sie ist, warum sie (hier) ist, wohin sie gehen soll, wohin sie gehört. Sich zu verlieren oder auf einer anderen Ebene in einem „augmented“ Umfeld neu, wieder oder erstmals zu finden oder seine Existenz nicht nur hinterfragt, oder mehr noch, zerstört oder ad absurdum geführt zu erfahren, das macht dieses Stück aus. Sehr dicht, kompakt und konzentriert, packend von der ersten bis zur letzten Minute ist die Dreiviertelstunde. Nachgerade zu kurz erscheint „AnotherR“, von dem man sich gern noch eine Weile länger faszinieren lassen würde.
Dem Sirenengesang der zunehmend real gestalteten und (von einem selbst) gestaltbaren künstlichen Welten zu widerstehen wird immer mehr Zeitgenossen eine ihre psychischen Abwehrkräfte übersteigende Herausforderung. Virtuelle Realität, und diese steht hier nur stellvertretend für viele andere digitale Räume, als Narkotikum und Zufluchtsort, an dem wir Welt, Gesellschaft und uns selbst designen. Nicht heilen.
Leonie Wahl mit „AnotherR“ am 30.09. im Wiener Off-Theater.