Ein Limen ist die Grenze hin zur Wahrnehmung eines Reizes. Der Ort, wo etwas beginnt, oder gerade noch nicht, unseren Körper oder unsere Psyche zu berühren. Spürbar vielleicht noch nicht auf der bewussten, aber auf deren vorgelagerten Ebenen. Wer auf dieser Schwelle verharren, mit und auf ihr spielen möchte, braucht allerfeinst tariertes Werkzeug. Der Musiker Mark Barden und die Choreografin und Performerin Ligia Lewis gaben im Tanzquartier Wien mit „Limina / Sensation 1“ eine diesbezügliche Lehrvorführung für ihre Zünfte.
„Limina“. Ein Ton. Langsam in die Stille des Raumes entlassen. Dann weitere, die sich aus dem Nichts dazugesellen. Dissonant, dicht beieinander in ihrer Lage, erzeugen sie Schwebungen, Differenzfrequenzen. Die vier im Halbkreis auf die Bühne gestellten Musiker des Ensembles Nikel mit ihren Arbeitsgeräten, Tischen mit Elektronik, Tasteninstrumenten, einem Saxophon, einer Gitarre, Rudimenten eines Schlagzeuges, sind hochkonzentriert.
Sie erhöhen allmählich die Komplexität. Das Deckenlicht wird gedimmt. Es gibt keine Tonreihen oder gar Melodien. Nur Klänge, die, elektronisch und natürlich erzeugt und gemischt, ihre Herkunft nicht immer preisgeben wollen. Es wird immer lauter, das Dröhnen ergreift einen. Hören mit der Haut. Das Schwingen der Eingeweide spüren. Plötzlich sehr leise Geräusche. Ein Ton. Und es kratzt, knackt, raschelt und knistert. Die E-Gitarre wird mit dem Bogen gestrichen, irgend etwas auf einem anderen Tisch auch. Die Elektronik beißt sich hinein mit schmerzendem Getön. Die Intensität nimmt zu. Die Augen schließen und zurückfallen in sich. Man beginnt, die Fülle der Details zu entdecken und in sie einzutauchen.
Nikel (Yaron Deutsch an der E-Gitarre, Patrick Stadler am Saxofon, Brian Archinal am Schlagzeug und Antoine Françoise an den Tasteninstrumenten) gestalten mehrere Phasen verschiedenen Charakters. Nun auch die Höhen der einmal angeschlagenen Töne modulierend, klappert es dazu. Es wird perkussiv und kreischt. Die Bässe fassen das Gestühl, der Puls steigt mit der Lautstärke. Es dröhnt markerschütternd. Höchste Intensität. Plötzlich fast Stille. Nur ein Ton. Es ist kein Tinnitus, denn er wabert leicht in seiner Höhe. Und mit ihm die fünf Deckenleuchten. Ligia Lewis betritt von hinten die Bühne.
„Sensation 1“. Sie stellt sich ganz vorn auf, mit breiten Beinen, aufgerissenem Mund und das Gesicht nach oben gewandt. Ihr Atmen, ungleichmäßig und irgendwie gestresst-gepresst, ist das einzige Geräusch im Saal. Ihr Körper zittert. Die Arme vor sich haltend, bewegt sie nur die Finger etwas. Diese Ausgangsposition verändert sie sehr langsam. Arm- und Kopfhaltung, den Rumpf ein wenig vor, dann zurück. Die drastischste ihrer feinen Gesten ist ein Sinken auf die Knie, erst auf eines, und dann wieder in den Stand. Alles in Slow Motion. Und am Ende steht sie mit hochgereckten Armen da, im eben wieder einsetzenden Sound und hellen Spots. In höchster Körper-Spannung.
Ihre von Whitney Houstons Welterfolg „I Will Always Love You“ inspirierte, bereits 2011 entstandene und hierfür überarbeitete Performance „Sensation 1“ mag die Geister scheiden. Es Tanz zu nennen provoziert Widerspruch. Mit Sicherheit. Wie sie aber mit ihrem Körper erzählt, zeugt von tänzerischem Vermögen der Extraklasse. Ihre Gesten liegen physisch sehr dicht beieinander, fast indifferent. Das Spektrum allerdings, von dem sie berichten, ist schlichtweg überwältigend.
Das Skulpturale ihres Tanzes führt das in seiner Empfindsamkeit durch das Konzert, durch den vorangegangenen akustisch-physischen Weichspülgang sensibilisierte Publikum wie durch ein Wachsfigurenkabinett menschlicher Emotionen. Mit subtilsten Änderungen ihrer Gesten fließt sie durch Schmerz und Angst, Bangen und Hoffen, Verzweiflung und Trauer, Anbetung und Hingabe, An- und Entspannung, Staunen und Neugier, Sehnsucht und Begehren. Und Freude. Alles jedoch wird überlagert und durchdrungen von einem inständigen Flehen. Darum, endlich lieben zu dürfen, endlich geliebt zu werden. Und schließlich auch sich selbst zu lieben.
Mit der Zweiteilung des Abends, einer Gemeinschaftsproduktion von Wien Modern und dem Tanzquartier Wien, hier als Erstaufführung gezeigt, wurde eine zusätzliche Aufgabe für das Publikum formuliert. Die, das chronologisch Serielle in der Wahrnehmung zu parallelisieren. Sensorische Feinarbeit war gefordert. Beim Hören, und über das hinaus auch der körperlichen Wahrnehmung der Klangwelten Mark Bardens wie auch, und in geschärftem Maße, bei der Performance von Ligia Lewis. Zweigeteilt war dieser Abend, zur Ein-Heit wurde er in uns. Zumindest in denen, die sich einließen.
Das Konzept, den auf die psycho-physische Erfahrung von komplexen Klangmassen orientierenden Komponisten Mark Barden und die vielfach ausgezeichnete, weltweit tourende dominikanisch-amerikanischen Choreografin Ligia Lewis, sie war 2022 bereits mit ihrem jüngsten Gruppenstück „Still Not Still“ im TQW zu Gast, an einem Abend nacheinander, aber gemeinsam auf die Bühne zu stellen, ist gelungen. Für das Publikum ermöglicht es meben der Herausforderung selten erlebte Intensität in einer großartigen Performance.
„I will always love you“ ist der Gesang Gottes (und wer Gott nicht mag, kann ihn ersetzen durch Universum, Unendlichkeit, Leben, Buddha usw.), der unser Leben vom ersten bis zum letzten Augenblick (und weit darüber hinaus) begleitet und aus jedem Begebnis zu uns spricht. Ihn zu vernehmen braucht es feinste Antennen, die, hier gesetzt und ausgerichtet durch Mark Bardens Musik und Ligia Lewis' Performance, auch und vor Allem nach innen gerichtet werden sollen. Um dort das uns aus den tiefsten Tiefen anrufende „Ich werde dich immer lieben!“ endlich auch zu hören.
Mark Barden und Ligia Lewis mit „Limina / Sensation 1“ am 04. November.2022 im Tanzquartier Wien.