Bei noch geschlossenem Vorhang zieht Georges Bizets Carmen Prélude mit Wucht (musikalische Leitung Claire Levacher) in die Welt von Sevilla. Dass diese sich im Grunde aber gar nicht so sehr vom Hier und Heute unterscheidet, sich in der nun zu erlebenden Ballett- Interpretation Beate Vollacks jedenfalls nicht unterscheiden soll, vermittelt wenig später die sich öffnende Bühne überaus deutlich (Jon Morrell).
Mit einer Arena assoziierbar spiegelt sie vor allem den gegebenen Zuschauerraum und versucht damit, das Publikum in das Bühnengeschehen zu integrieren, die Allgemeingültigkeit der grundsätzlichen, hinlänglich bekannten Thematik zu unterstreichen.
Die Choreographie der Ballettdirektorin des Grazer Opernhauses basiert wertschätzend auf dem, was – entsprechend auch seiner Entstehungsgeschichte – die Qualitäten dieses Meisterwerks des Musiktheaters nun ausmacht. Und flicht doch, in Absprache mit Levacher, musikalisch Anderes so wie Bekanntes neu arrangiert ein: Derartige Überraschungsmomente bewirken eine Vergrößerung der Aufmerksamkeit gegenüber Vertrautem. Und dieser bedarf es auch durchaus, denn auch inhaltlich fügt Beate Vollack – die sich bereits in zwei ihrer Produktionen in Graz, in „Undine“ und „Cinderella“, mit außergewöhnlichen Frauenfiguren auseinandergesetzt hat – ihre Handschrift, ihre individuelle Sehweise ein und legt den Fokus auf die divergierenden Seelen, die Carmens Brust bewohnen.
Überzeugend versteht Lucie Horná die zärtlich liebende, hingebungsvolle Seite Carmens in ihrem zart-geschmeidigem Tanz auszudrücken. Die der temperamentvoll eigenständigen, von Konventionen freien, leidenschaftlich Liebenden und zielstrebig Entscheidenden, dieser Facette fehlt jedoch so manches Mal die Schärfe. Was aber nicht nur an ihr, ihrem Ausdruck liegt, sondern auch an Vollacks anspruchsvoller Intention, die innere Kraft dieser Frauenfigur auch als solche eines Stieres zu verdeutlichen oder zumindest an diesen erinnern zu lassen. Und so agiert der von Escamillo (Philipp Imbach) zum Kampf ausgewählte Stier (Kirsty Clarke) nicht nur als tradierte Inkarnation bulliger, gegnerischer Kraft, sondern auch als Teil von Carmen. Dieser choreografischen Herausforderung (getanzt von einer Frau obendrein), diesem Trennen einerseits und Ineinanderfließen von Rollen andererseits, gelingt es – bei aller Faszination der zugrundeliegenden Idee - nicht immer zu entsprechen: weder in der choreografischen Vorgabe noch in der tänzerische Interpretation. Es glückt mehrmals in der unmittelbaren Gegenüberstellung, im solistischen Nebeneinander von Carmen und „ihrem“ Stier.
Der Todeskampf des „realen“ Stiers zählt ohne Zweifel zu den tänzerischen Höhepunkten. Auch, weil hierbei die Ausdruckskraft des Zeitgenössischen im Spitzentanz – im Vergleich zum eher dem Klassisch-Fließenden verbundenen des Abends – zum Tragen kommt. Dies gilt auch für die mitreißenden Auftritte Giulio Panzis; insbesondere für seinen Tanz eines tödlich Verletzten – sowohl die tanztechnische Umsetzung und die emotional ergreifende Darstellung betreffend.
Die dem tatsächlichen Leben entsprechende Verflochtenheit von Ebenen und Perspektiven verschwimmen in dieser komplexen Interpretation ein wenig, weil insgesamt die Choreografie vor allem durch die Harmonie und Ästhetik des tänzerischen Flusses begeistert und besticht; das Corps de Ballett verdient sich dafür viel Anerkennung. Es fehlt aber an markanten Ecken und Kanten, Höhen und Tiefen. Gegeben sind sie am deutlichsten durch die aus Prosper Mérimées Vorlage übernommene Perspektive des Alter Ego Don Josés, die der ausdrucksstarke Tänzer Paulio Sóvári in bewährter Manier mehrmals nachdrücklich spüren lässt.
Ob die freiheitsliebende Carmen im Grunde, in ihren Gefühlen letztlich nicht auch eine Haltlose, eine Zerrissene ist, das mag unterschiedlich gesehen werden. Dass es Don José (Fabio Agnello) an Selbst-Sicherheit fehlt, er eher ein Getriebener ist, einer, ‚mit dem Geschieht‘, das ist zu erleben; nicht so sehr allerdings das, was seine große Liebe ausmacht, und damit das, was einem Pas de Deux von Liebenden zu tänzerischen Höhepunkten werden lässt.
Der fast showartige, lange Tanz der Toreadore oder das hoch lodernde „Lagerfeuer“ auf der Bühne wird hoffentlich nicht stärker im Gedächtnis bleiben als etwa die atmosphärisch dichte und von den Tänzerinnen eindringlich zurückhaltend-kraftvoll gestaltete Eingangsszene. Welche der durchaus gegebenen aber sehr unterschiedlichen Gründe es auch waren: Der anerkennende Premierenapplaus war lang.
Ballett der Oper Graz: „CARMEN“ Ballett von Beate Vollack, Uraufführung am 11.Februar 2023 im Opernhaus Graz. Weitere Vorstellungen am 16. Februar, 1., 4., 5., 24., 31. März, 15., 27. April, 3., 5. Mai