Samuel Feldhandlers initiales emotionales Erlebnis in einer Pariser Shoah-Gedenkstätte gerinnt in „Georges Tremble“ zu einem Musik-in-Bewegung-übersetzenden Tanzstück. Vordergründig. Denn es ist ein poetisches Bild für mannigfaltig in uns (Fort-)Klingendes.
Mit einem Ende beginnt alles. Der Tänzer, die Dunkelheit umfängt ihn fast völlig, wirft in der Stille die Hände aus dem Körper in die Höhe. Die Geste des Jazz-Trompeters Dizzy Gillespie, mit der er dem Orchester das Ende des Stückes signalisierte. Es knackt aus den Lautsprechern. Das einsetzende Licht gibt hinten zwei große Tuschezeichnungen frei, eine Landschaft und ein sich umarmendes Paar, beobachtet von einer liegenden Person. Ein zweiter Tänzer löst den ersten ab. Sound-Fetzen aus dem Off.
Diesem ersten Bewegungs-Zitat folgen einige weitere. Kurze Gesten und längere Phrasen. Im Tippelschritt seitwärts, geschwungenes Bein, die gewinkelten Arme seitlich abgespreizt. Sie streichen mit gestrecktem Arm und entspannter Hand schräg nach unten, vor sich oder leicht erhoben durch die Luft. Kurze Schläge mit dem Fuß, deutlich hörbar. Stepptanz. Klassisches Vokabular eingewoben in die vielfachen Wiederholungen der markanten Zitate.
Komponiert hat Feldhandler das Stück wie eine dreiteilige Sonate. In seinen Arbeiten sucht er seit 2012 immer wieder nach Wegen, musikalische Strukturen in Bewegung zu übersetzen. Das Allegro am Anfang macht mit dem Vokabular bekannt. Die drei TänzerInnen Elizabeth Ward, Mani Obeya und Yari Stilo agieren wie Musik-Instrumente, die vertikale und horizontale kompositorische Strukturen, Akkorde und Melodien, in synchron-asynchron getanzte, mono- und polyphone Solo-Duett-Trio-Passagen transformieren. Im folgenden Andante geht es ruhiger zu. Der letzte Teil variiert die Themen in Form und Konstellation.
Der Sound dazu, vom Choreografen gemeinsam mit Paul Kotal entwickelt, würzt mit ebensolchen Zitaten und Bruchstücken das Stück, ohne eine akustische Vorlage für das Bühnengeschehen zu sein. Die im zweiten Teil teils dissonanten, wie Glasmusik klingenden Toncollagen erinnern an eine Sound-Installation der schottischen Künstlerin Susan Philipsz, die 2018, im 80. Jahr nach dem „Anschluss“ Österreichs an das faschistische Deutschland, den Klang zum Schwingen gebrachter Gläser zweimal täglich für zehn Minuten über den Wiener Heldenplatz goss. Zum Gedenken an die damals folgende Judenvernichtung. Die Zerbrechlichkeit von Zuständen, demokratischen wie gesellschaftlichen, sozialen und individuellen, physischen und psychischen, klingt ebenso im über weite Strecken vorsichtig das Stück begleitenden Sound.
Und gemeinsam mit ihm führt Samuel Feldhandler das Stück heraus aus einer rein musikalisch-tänzerischen Versuchsanordnung in eine physisch-psychische Ebene. Nicht nur die Shoah wird hier als Teil unseres komplexen psychischen Erbes thematisiert. Das als physisches Zitat in oft sanften, weichen Bewegungen und zuweilen mit Zärtlichkeit Präsentierte, es gibt in diesem Stück nichts Kantiges, steht für das komplexe seelische Erbe, das den Menschen großenteils unbewusst prägt. Bewegungsvokabular, das physisch repräsentiert, was psychisch formt und persistiert. Das Schütteln und Lockern der Muskulatur helfe gegen die Verfestigung von Traumata, wie der Choreograf im Interview zu diesem Stück anmerkte ...
Die drei TänzerInnen, die der Choreograf für sein Stück gewinnen konnte, repräsentieren mit ihren Herkünften und Biografien viel von dem, wovon die Arbeit in ihrem Subtext erzählt. Nicht nur, als drei, die Dreieinigkeit von Körper, Geist und Seele. Gereifte KünstlerInnen-Persönlichkeiten. Elizabeth Ward mit US-amerikanischen, Mani Obeya mit nigerianisch-britischen und Yari Stilo mit südfranzösisch-mediterranen Wurzeln. Vielfältigste künstlerische und persönliche Erfahrungen und das Zitate-Material verschmelzen auf der Bühne Vergangenheit und Gegenwart zu einem polyphonen Jetzt. Trost zu suchen und zu spenden so wie Versöhnung werden zu zwar nur angedeuteten, jedoch wesentlichen Aspekten im Umgang mit den Gefühlen, durch die die PerformerInnen gleiten.
Der Klang der E-Gitarre wird klarer. Akkorde brechen einstimmiges Melodie-Spiel. Das Stück „Ich rufe zu dir“ von Bach, dem Großmeister christlich-sakraler Musik, dessen drei- (!) stimmige f-Moll-Bearbeitung ein Favorit der Romantik war, von Samuel Feldhandler selbst eingespielt. Die drei tanzen durch die Licht-Stimmungen von Emese Csornai und auch im Dunkel noch ein wenig weiter. Die Musik hingegen scheint in der Finsternis in die Ewigkeit hinein zu klingen. Um später einmal wieder andere, neue Verkörperungen zu ermöglichen.
Samuel Feldhandler mit „Georges Tremble“ am 10. Februar 2023 im Tanzquartier Wien.