Der Wiener Choreograf, Performer, Philosoph und Theoretiker Michael Turinsky zeigte im November 2021 sein mit dem Nestroy-Preis geehrtes Solo „Precarious Moves“ an selber Stelle. Nach, neben vielen weiteren Aspekten, der „Crip-Time“ dort wird hier der Körper zum zentralen Moment der Betrachtung des spastisch gelähmten Künstlers.
Über ihnen hängt ein riesiger Zervix aus Stoff. Wie ausgespien von diesem gigantischen Muttermund finden sich die drei in diesem Bassin, das mit Wasser gefüllt sein könnte. So wie die Fruchtblase, aus deren Schwerelosigkeit entlassen worden zu sein sie nachhaltig zu irritieren scheint. Weil das Wasser fehlt. Der Schwerkraft übergeben erforschen sie ihre Körper, dessen Möglichkeiten und Grenzen. Aber das dauert noch.
Viel Text durchdringt zuvor die Dunkelheit, während die drei PerformerInnen David Bloom, Sophia Neises und Liv Schellander dicht beieinander hocken und der elektronische Sound von Tian Rotteveel aus dem Hintergrund drei Stimmen, vielleicht vorher von den dreien eingesprochen, mit kühlen Flächen, bald mehr Bass unterlegt. Erinnerungen an die Kartoffelsuche als Kind, den Schlamm und die Erde an den Händen, an Wellen, über die sie glitten, eine schlug im Atlantik über sie mit salzigen Wassern, schwedischer Wald mit seinem moosbedeckten Boden, Erdbeben und eingestürzte Häuser, er datete eine Meerjungfrau, der heiß und kalt sich mischende Schweiß, die erste durchtanzte Clubnacht.
Sie bewegen sich auseinander, endlich etwas Licht. Die Stimme von Michael Turinsky, dessen englische Rede. Human, Humanität, Humus. Viele Fragen schickt er in den Raum: „How can we …?“ Mitten im Publikum sitzt Monique Smith-McDowell, deren mit kaum modulierter Stimme gesprochene englische Audiodeskription fortan das Bühnengeschehen begleitet (Barrierefreiheit für Sehbehinderte), des Zuschauenden eigene Empfindungen und Gedanken zum Geschehen damit jedoch weitgehend überschreibt.
Das, was dann beginnt vom Himmel auf sie herab zu tropfen und zu rieseln, ist Kürbiskernöl, die wertvolle (Quint-) Essenz des Erdgebundenen. Wie oben, so unten. Das Himmelreich auf Erden. Himmel und Hölle gibt es nicht, sie sind Geschöpfe und Produkte unseres Denkens und Fühlens. Es gilt, die konsolidiertesten, wie die Wirkung von Naturgesetzen argumentierten und akzeptierten gesellschaftlichen Konditionierungen zu hinterfragen und neu zu ordnen. Allein dieses Bild ist ein so mächtiges.
Langsame Bewegungen, Druck der Zehen auf den Boden, Wälzen im Öl. Die Audiodeskription beschreibt in poetischen Worten das Bühnengeschehen. „Zurückgebogen. Die Brust wie ein Auge, das den Himmel sucht.“ Sie gleiten wie Delfine, spielen wie Kinder in der öligen Suppe, versuchen, aufzustehen, die Körper „wie Inseln im Wasser“. Stille. Nur die Körper knistern auf der Folie zum stetigen Tropfen des Öls. Individuelle Versuche, die schräge Wand des Beckens zu überwinden, misslingen.
Sie gleiten zusammen, verschränken ihre Körper, zucken, pulsieren, vibrieren. Auf Knien: „Glory has been found.“ „Als würde die Sonne das erste Mal aufgehen.“ Sie schütteln ihre Körper wie in Spasmen. Gelächter, Necken, Haare ziehen, Wrestling. Sehr ruhige Bewegungen, „wie Galaxien durch Raum und Zeit“, hin zum hinteren Rand.
Der Kürbis spielt in Text und Bildsprache eine zentrale Rolle. Als eine Frucht der Erde, auf dieser liegend reifend, von ihr getragen und unterstützt, unfähig, sie ihr zu entwinden, sich fortzubewegen, wertvoll dennoch in seinen Inhaltsstoffen, die, einmal extrahiert, Nährendes und Würzendes ergeben für mancherlei an sich noch Pfades. Die innige Verbindung mit dem Boden, die die drei nie verlieren, die zu überwinden sie allerdings kurz einmal, erfolglos, versuchen, sie sind der Erde ausgeliefert, sie hält sie fest, bleibt das prägende und schließlich auch zugelassene Merkmal ihrer Seinsweise. Die Erfahrungsebenen sind sehr elementare, beinahe animalische, erst mit dem Aufschnüren zivilisatorischer Korsette erreichbare. Körperlichkeit in einer sie begrüßenden Umgebung.
Erinnerungen und die damit verbundene Möglichkeit der Neu-Bewertung dieser eröffnen Wege in neue, andere Vergangenheiten. Mit diesen dann sich auf den Weg zu machen in bislang unmögliche Zukünfte ist wahrlich, und im besten Sinne, utopisch. Rückwärtsgewandte Sehnsüchte als solche zu identifizieren und sie in progressive, konstruktive zu transformieren gelingt den Dreien über den Genuss ihres So-Seins im Jetzt und Hier. Erst mit dem lustvollen Erleben seiner selbst innerhalb seiner Grenzen und der Akzeptanz dieser eröffnen sich Möglichkeiten und Wege, diese Grenzen zu überschreiten. Das Spielerische, das Ausprobieren führen in die Ent-Deckung seiner selbst, des Anderen und letztlich eines die Ur-Bedürfnisse der Menschen lebenden Gesellschafts-Konzeptes.
Am Ende entbinden sie sich selbst. Von ihren Grenzen. Sie gleiten über den „Tellerrand“ hinaus ins Dunkle. Die Musik spielt in der Dunkelheit noch lange, so, als würde sie, wie während der ganzen Performance, sie nicht allein lassen, sie begleiten wollen auf ihrem Weg. Nun auf dem ins Ungewisse. Ins Leben.
Michael Turinsky mit „Soiled“ am 04. März 2023 im Tanzquartier Wien.