„I love you all! I love you all!“ Das Solo „Mountains“, der erste Teil des Diptychons „On Earth I'm Done“ des schwedischen Choreografen Jefta van Dinther, gibt dieses göttliche Statement dem zweiten mit auf den Weg. In „Islands“ tanzt die schwedische Kompanie Cullberg in einer „Zeit danach“. Das Prä-Humanoide hat die Chance auf einen von höchster Stelle autorisierten Neuanfang. Enden jedoch wird diese brillant getanzte - wiederum allzu menschliche – Geschichte mit einem dramatischen Appell.
Den breiten Streifen aus Licht vor der Tribüne bevölkern die TänzerInnen nach und nach. Wie maschinelle Primaten bewegen sie sich im Techno-geschwängerten Nebel, wie am Anfang einer langen Entwicklung. Gemeinsam mit den TänzerInnen von Cullberg, der Kompanie für zeitgenössischen Tanz aus der Nähe von Stockholm, entwickelte der in Schweden geborene und heute in Berlin lebende Choreograf und Tänzer Jefta van Dinther das Stück „Islands“. Das Lernen und Individualität in der Gruppe gab er als zentrale Aspekte für den künstlerischen Prozess vor.
Wie funktioniert Lernen beim Menschen, wie bei Maschinen? Das Bühnensetting von Cristina Nyffeler ist eine Welt nach der unseren. Fremd, leer, voller Möglichkeiten, und neu für jeden ihrer Bewohner. Die Konfrontation der Horde der in rot-schwarze Overalls gekleideten mechanischen mit der Gruppe fünf menschlicher Wesen, die sich nackt auf den Knien wiegend aus dem Hintergrund in den Raum bewegen, ist eine Begegnung in einem frühen Entwicklungs-Stadium. Vorsicht, Misstrauen, gar Widerstand von Minoritäten oder Einzelnen lösen sich in der Masse auf. Vier streifen sich sehr bald schon die Uniformen der Mehrheit über. Der verbleibende letzte nackte Mensch wird regelrecht zugeritten in die Gruppe integriert.
In der Kostüm- und Bewegungssprache repräsentieren die nackten und die in hautenge, an den Körperflanken mit Protektoren ausgerüsteten Overalls gekleideten PerformerInnen einen Antagonismus von individuell-Organischem und vergesellschaftet-Mechanisiertem. Deren Evolution zeigt Cullberg in einem retrospektiv-antizipatorischen Zeitraffer. Mit markanten Meilensteinen.
Sie erforschen ihren eigenen Körper und den der Anderen, kopieren Bewegungsmuster, erlernen Fortbewegung und aufrechten Gang. Sie kannibalisieren sich. Eine am Boden liegende Tänzerin wird ausgeweidet. Andere kommen, um zu naschen. Der Staubsauger-Roboter, der von hinten auf die Bühne fährt, wird zum Spielgefährten für eine nackte Tänzerin. In diesem Duett verwischt van Dinther die Grenzen menschlicher und maschineller Wesenheit, indem er deren Bewegungen als selbstverständliche Koexistenz von natürlichen und mechanisierten Prozessen und deren beiderseitige Wahrnehmung und Beeinflussung choreografiert. Tänzerin und Roboter verschmelzen zu einem empathisch aufeinander reagierenden Paar mit frappierend ähnlichem Verhalten. Großartig.
Die Wesen lernen zu sprechen. Denn am Anfang war das Wort. Laute, dann Worte und Sätze werden von eingespielter Stimme vorgesprochen und von den TänzerInnen wiederholt, auf vollkommen mechanische Weise. Scheinbar reine Technologie in Körpern. Denn auch Abbild global wirkender Transfer-Prozesse, in deren Verlauf kulturelle Signaturen als wesentliche Merkmale einer Gemeinschaft deren Jüngern zur Aneignung empfohlen und von denen kritiklos übernommen werden. Im Ergebnis entstehen charakteristische sprachliche, Verhaltens-, Kleidungs-, Überzeugungs- und Glaubens-Schablonen, die Gruppen-Identität und -Narzissmus befördern und abgrenzen von Anderem.
„I knew your soul.“ „I hear your soul.“ Wie KI-Phrasen klingen ihre Sätze. Oder auch wie Ansprachen von Rattenfängern. Von denen des IS, von Sekten, Populisten. Die Fragen, wie und warum Faschismus funktioniert, werden explizit nicht formuliert, sind aber wesentliche dieser Arbeit.
Gleichgeschlechtliche Sexualität. Man liebt sich selbst im Anderen. Zwei Männer küssen sich, gedrängt von Menschenketten hinter sich, und ermutigen die Menge. Laszives Winden. Erotik als kulturelle Errungenschaft. Sie finden sich zusammen, um drohend und alle in die selbe Richtung Luft zu werfen. Gruppen-Dynamiken, ideologische Abgrenzungen, konstruierte Feindbilder als individuell- und gruppen-identitärer Kitt. Ein hell leuchtender See, in den sie fasziniert, forschend und neugierig schauen, scheint wie eine Ahnung oder Verheißung der Gesamtheit menschlichen Seins mit all seinen individuellen und gesellschaftlichen Potentialen auf sie zu wirken. Und wie die Entdeckung des Unbewussten.
Einer beginnt sich zu sezieren. Pantomimisch reißt er sich Gewebe aus dem Arm und präsentiert es, vier beobachten ihn neugierig, als imaginierten Strang den Staunenden. Bald stehen sie alle dicht vor der Tribüne und entreißen ihren eigenen und den Körpern Anderer Organe. Zähne, Muskeln, Hirn, Augen halten sie vor sich. Ihr Forschergeist nimmt keine Rücksicht. Die Frau, der zwischen ihren Beinen etwas mit Gewalt herausgerissen wird, schmerzt die Entdeckerfreude der anderen. Wissenschaft um ihrer selbst willen. Ethik ist für Angsthasen.
Die vor der Tribüne am Boden liegende Lichtleiste wird zu leuchtenden Segmenten, die von den TänzerInnen seitlich nach hinten strebend in den Raum verschoben werden. Einzeln kniend hinter jedem Element wächst aus den sich noch individuell Bewegenden langsam eine zu Pop-Musik synchronisiert tanzende Menge, in der jede Individualität, jede Selbstbestimmung erstarb, die schließlich wie eine Pfeilspitze drohend auf uns, die Masse, weist. Und damit, plötzlich, ist alles vorbei.
Das Lernen ist der Rahmen, der „Islands“ zu einem zeitgenössischen Handlungs-Tanztheater macht. Die 13 Wesen lernen von sich selbst und dem Anderen, sie füllen ihre leeren Körperhüllen mit Wissen und Erfahrung, um schließlich alles sein zu können. Mensch und Maschinen gleicher Funktionsträger, Individuum und Masse. Faszinierend und verstörend zugleich.
Gleichzeitig fragt „Islands“, und hier mag der Titel einen seiner Bezüge haben, ob Individualität und individuelle Erfahrung überhaupt möglich sind. Schon. Aber: Der Mangel an individuellen, unabhängig von der Masse (nicht in Opposition zu dieser) existierenden Werte- und Glaubenssystemen und das menschliche Bedürfnis nach Zugehörigkeit, das gleichzeitig als Mäntelchen für die Flucht des verunsicherten, rückgrat- und orientierungslosen Einzelnen in die wohlige, endlich Anerkennung, Stärke und Macht verheißende Knechtschaft der Masse dient, bergen riesige Gefahren.
Die finale Uniformität, die als Folge der Selbstaufgabe letztlich erst möglich werdende Gleichschaltung aller „Replikanten“ wird zur Bedrohung. „Islands“ beschreibt die Attraktivität von Kulturen, Subkulturen, „Bewegungen“, Sekten und anderen Organisationen, ja selbst der des uns umhüllenden, einlullenden neoliberal-postkolonialen Kapitalismus. Das Stück erzählt von den Mechanismen der Etablierung von Mehrheiten und der psychischen Kraft, die es braucht, ihnen mit kritischem Blick zu begegnen, ihren gut verdeckten missbräuchlichen Intentionen nicht zu erliegen und wird somit zum mahnenden Appell. Und: Wie nah der Faschismus unter den Oberflächen individueller, sozialer, gesellschaftlicher und religiöser Korsette auf seine Chance lauert, zeigt uns Jefta van Dinther auf eindringliche Weise. Weil wir Menschen sind. Und es wohl bleiben werden.
„On Earth I’m Done: Islands“ von Jefta van Dinther / Cullberg am 23. März 2023 im Tanzquartier Wien.