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JanMartens08„Wir müssen handeln!“ So der trotz seines bereits 2011 mit „Sweat Baby Sweat“ einsetzenden internationalen Erfolges noch vergleichsweise junge Choreograf Jan Martens. Sein im Sommer letzten Jahres beim Festival d'Avignon uraufgeführtes Stück „Futur Proche“ (Nahe Zukunft) erlebte hier seine Österreich-Premiere. Musikalisch, tänzerisch und inhaltlich ein wegweisender Abend.

Eine bühnenbreite Sitzbank, ein Cembalo davor. Die 16 TänzerInnen des Opera Ballet Vlaanderen und zwei Kinder in ihrer legeren Alltags- und Straßen-Bekleidung bevölkern diesen Lebensraum bereits. Die live interpretierte Cembalo-Musik setzt ein. Die derzeit in Amsterdam lehrende, weltweit konzertierende und unterrichtende, 1973 in Polen geborene Cembalistin Goska Isphording spielt in diesem Stück zwischen 1969 und 2021 entstandene zeitgenössische Kompositionen für Cembalo, die in ihrem Duktus so gar nichts mit dem lieblich-süßlichen, barocken „Geklimper“, das gewöhnlicher Weise mit diesem Instrument assoziiert wird, zu tun haben.JanMartensRoe

Die TänzerInnen bewegen in nur Sekunden langen, sich fließend ablösenden Intermezzi Arme und Hände. Sie kommentieren die Musik, setzen sie, mit ausgeprägter Musikalität choreografiert, in Bewegung um. Der 1984 geborene belgische Choreograf und Tänzer Jan Martens entdeckte die zeitgenössische Cembalo-Musik während der Corona-Pandemie. Die Beschäftigung mit ihr führte schließlich zu einem radikalen Wandel seiner Arbeitsweise. Nicht mehr das Thema bestimmt die Wahl der (meist Pop-) Musik, sondern die Musik selbst führt in eine thematische Reflexion, wie Martens sagt.

Stille. Dann Marschmusik. Zwei Gruppen kommen im Gleichschritt von hinten. Sie tanzen in wechselnden Synchronizitäten, mit vielen Drehungen um die eigene Achse, mit den Händen an der Hüfte. Es erinnert an irischen Volkstanz. Auch das Umkreisen der langen Bank volkstümlich-volkstümelnd. Eingestreute Zitate klassischen Materials, Sprünge im Laufen mit eingedrehter Landung. Bewahrte Traditionen, gepflegtes Erbe, tänzerisch sofort von Zeitgenössischem mit dem Jetzt verbunden. So wie das Instrument Cembalo, das nach hundertjährigem Tiefschlaf im 20. Jahrhundert wiederentdeckt wurde. Für und mit Musik unserer Zeit.

JanMartens01RoeDie Musik nun wie Pop-Musik, mit hackendem Rhythmus, sehr dynamisch. So auch der Tanz. Sie springen von der Bank, einzelne rennen, dann alle synchron um die Bank. Weiches Wiegen, die Arme schlendern, Tippeln auf der Stelle, Drehungen. Die Kraft und die Macht der Masse werden spürbar. Die Musik ist überraschend komplex, ungemein dicht, polyphon und polyrhythmisch. Das Licht (von Elke Verachtert) hebt einzelne aus der Menge. Deren Individualität werden kurz einmal Räume geöffnet. „Jeder Körper kann kommunizieren, hat etwas zu sagen.“ So Martens in einem Interview. Dann wieder synchrones Gehen im Achter-Rhythmus der mit elektronischen Effekten verdickten Musik. Phrasenweise Musik und Tanz, dazwischen Ruhe.

Auf die herabgelassene Leinwand wird das Bühnengeschehen projiziert. Scheinbar. Ein Tänzer, ohne seine Hose nun, bewegt sich zum langsamen Rhythmus der dissonanten Musik äußerst expressiv, die eingespielte Aufzeichnung seines Tanzes kopierend. Weitere TänzerInnen gesellen sich hinzu, nähern sich der Kamera, schauen in diese, von der Leinwand auf uns. Das Cembalo dröhnt gewaltigen Klang auf die Bühne. Eine Frau stakst unsicher herbei, alle fünf Gesichter dicht vor der Kamera. Sie blicken uns an. Chaotische Musik. Stille. Dunkel. Zwischenapplaus.JanMartens02Roe

Text auf der Leinwand. Eine Folge von Bestandsaufnahmen und Forderungen wie „Freie Universitäten für alle!“, „Mutationen von Lebensmitteln“. Das Abbild einer moralisch und ökologisch degenerierten Welt, begleitet von disharmonischer Musik. Die verstreute Menge geht synchron ganz langsam in die Knie, mit vielen Wiederholungen. Die Kamera schaut von oben aufs Cembalo. Die Komposition ist voller rhythmischer und harmonischer Konflikte, hochdynamisch, mit plötzlichen, kurzen Pausen. Das Gebrochene der Musik spiegelt, auf höchstem Niveau, der Tanz, der mit der Musik ins Chaos gleitet und mit ihr, in eingefrorenen Bewegungen, verhallt.

Bis einer mit einem Eimer hereinspaziert. Und die Leinwand fällt. Sie füllen gemeinsam, auch eine Eimerkette wird gebildet, einen riesigen Bottich mit Wasser. Apokalyptische Musik dazu. Sie trennen die lange Bank auf. Ein Segment liegt umgestürzt. Chaos auf der Bühne. Die Welt eine Ruine. Die PerformerInnen nur noch in hautfarbener Unterwäsche. Stille. Sie steigen in Vierergruppen in das Bad, helfen erst, synchronisiert in immer gleicher Choreografie, einem Nachbarn seinen Rücken zu nässen und tauchen schließlich gänzlich ein. Ressourcen schonende rituelle (Rein-) Waschung. Die letzten Wasser des Ganges im Zuber. Einer aber bleibt übrig.

JanMartens10Cembalo und Elektronik krachen, dröhnen, heulen, kratzen. Wie Zombies stehen sie im gedämmten Licht, posen sie im Raum verteilt. Äußerst langsam bewegen sie den Körper. Der Sound wummert und pulsiert. Ein Spot wandert gemächlich über die Bühne. Stille. Jeder ist allein. Hochspannung. Die Posen erzählen von Vereinsamung, Schuldgefühlen, Verzweiflung, Halt- und Hoffnungslosigkeit, Zögern. Und, vereinzelt, Aufraffen. Sehr lange dauert es, bis ein Klatschen, dann ein Stampfer zu hören ist. Immer mehr, lauter treten sie auf, synchronisieren es schließlich und stampfen alle im Gleichschritt. Ein Händeklatschen beendet alles. 

Wenn dann erst alles in Trümmern liegt und jeder sich seines individuellen und des Elends dieser Welt bewusst wird, erst dann rafft der Einzelne sich auf, um den Anderen zu finden und final gemeinsam, langsam erst, doch dann mit Macht aktiv zu werden. Die individuelle Innenschau führt in kollektive Handlung, Besinnung in Besonnenheit.

Der Einzelne stellt sich nicht in Frage. Die vielen Wiederholungen auf individueller Ebene und die immer wieder gesuchte Synchronisierung mit den Anderen, mit denen Jan Martens in seiner Choreografie arbeitet, zementieren den individuellen wie den gesellschaftlichen Status Quo tänzerisch. 

Das Areal vor der Kamera zeigt Menschen, die ihre Realität in die von sozialen Medien outgesourct haben, die sich psychisch von Likes ernähren, deren selbstverliebt-egozentrische Asozialität sie im erweiterten Sinne auch gegen ihre natürliche Umwelt und ihre Verantwortung dafür ertauben und erblinden lassen hat. Doch, und hier erweist sich Jan Martens als im positiven Sinne Idealist, ein Rest von Gewissen, und diesbezüglich einem überaus schlechten, überlebt in jedem von uns. Es zu betäuben helfen Reinheits-Rituale, die einer Entledigung von persönlicher und kollektiver Verantwortung für die (Um-) Welt dienen, nur temporär. 

Das Opera Ballet Vlaanderen und die Musikerin Goska Isphording agieren auf Weltniveau. Jan Martens baut mit „Futur Proche“ Brücken. Im Tanz von Klassik über traditionelle Tänze bis ins Zeitgenössische, mit der Zusammensetzung der PerformerInnen, deren Altersstruktur und künstlerische Herkünfte Diversität und „Demokratie im Tanz“ (so Martens) im besten Sinne leben, mit der Musik und dem gewählten Instrument verbindet er Jahrhunderte, mit der Story von der Egozentrik in die Verantwortlichkeit, mit Humor über große Ernsthaftigkeit und Wahrhaftigkeit,

mit dem Sujet des Stückes zwischen Musik und Tanz. Diese Arbeit, so dystopisch sie sich ihrem Ende nähert, soll zur Reflexion anstiften und aktivieren. Sie endet als ein dringender, mitreißender Appell an das Gute in uns, an das, was uns zu Menschen macht. Und Jan Martens weiß, dass es noch existiert.

Jan Martens mit „Futur Proche“ am 25.03.2023 im Festspielhaus St. Pölten.