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Naharin4Mit “Tabula Rasa” und „Goldberg Variationen“ standen bei der jüngsten Premiere des Wiener Staatsballetts zwei stilistisch konträre Werke auf den Programm. Die großartigen Tänzer*innen des Ensembles konnten dabei ihr vielseitiges Talent voll entfalten, sei es bei der tiefgreifenden Suche nach der „wahrhaften“ Bewegung in Ohad Naharins Gaga-Idiom oder bei der Vollendung der klassischen Ästhetik in Heinz Spoerlis Choreografie.

Gaga treibt die Tänzer*innen an ihre Grenzen. Unerbittlich gehen sie ans Limit ihrer körperlichen Möglichkeiten, sei es in einer völligen, energetischen Verausgabung oder im Auskosten einer Bewegung, eines Ausdrucks, einer Pose. Daran wird solange gefeilt, bis die Qualität den Choreografen überzeugt – und das ist er, wenn der Tänzer, die Tänzerin die Bewegung quasi aus dem körperlich Unbewussten generiert. So orientiert sich das tänzerische Ergebnis nicht am Erscheinungsbild, sondern an der Erfahrung. Gleichzeitig verleiht der Choreograf Ohad Naharin, aka „Mr. Gaga“, diesen Erfahrungen eine stringente Form. Naharin2

„Tabula Rasa“ zur gleichnamigen Komposition von Arvo Pärt hat an diesem Abend Premiere. Zum feingesponnenen Klangbild des Doppelkonzerts für zwei Violinen, Streichorchester und präpariertes Klavier (Musikalische Leitung: Christoph Koncz) entfalten sich Begegnungen voller Zärtlichkeit, Vertrauen, aber auch von Zurückweisung und Ablehnung, von Nähe und Distanz.

Naharin6Die Tänzer*innen fallen wie ohnmächtig in die Arme des anderen, der sie trägt, oder sie zu Boden fallen lässt. Sie springen auf den Partner, verschränken Arme und Beine um ihn, kuscheln sich in die Umarmung. Im langsamen zweiten Teil pendeln die Tänzer von rechts nach links in einer Reihe über die Bühne. Erst am Ende der Reihe treten einige aus der braven Anordnung heraus und kehren zurück in die Welt der chaotischen Beziehungen. Naharin5

Nicht allen der zehn Ausführenden ist es gleichermaßen gut gelungen, sich für den neuen, ungewöhnlichen Bewegungsstil einzustimmen, am überzeugendsten agierten dabei Sonia Dvořák und Jackson Caroll. Doch 1986, als das Stück für das Pittsburgh Ballet Theater entstand, hatte Naharins Bewegungssprache noch nicht einmal einen Namen. Es kann daher durchaus sein, dass die Unterschiede in Intensität und Körperlichkeit choreografisch beabsichtigt waren. 

Spoerli1Ganz in ihrem Metier der aufrechten Körper und klassischen Linien sind die Tänzer*innen in den „Goldberg Variationen“. „Diese Musik stützt einen immer. Wenn man Bach hört, erholt man sich“, sagt Heinz Spoerli. Und schließlich wagte er es, sich der Aria und den 30 Veränderungen des Themas der Bachschen Goldberg-Variationen auch eine tänzerische Erscheinung zu geben.Spoerli3

Das 1993 entstandene Werk für das Ballett im Theater am Rhein, wo Spoerli vor dem derzeitigen Wiener Ballettchef Martin Schläpfer Direktor war, hat jedenfalls bis heute nichts von seinem Appeal verloren. Der kurzweilige Tanzreigen mit seinen changierenden Stimmungen – von ernsthaft und erhaben, zum Beispiel im Pas de deux mit der eleganten Olga Esina und Brendan Saye als Partner, bis heiter, etwa mit der gute Laune versprühenden Hyo-Jung Kang, und verschmitzt wie Claudine Schoch in ihrem Solo – atmet mit der Musik im Gleichklang und setzt doch selbstständige Akzente. Als eine Art Zeremonienmeister kommt Davide Dato das ganze Stück hindurch eine besondere Rolle zu. 

Spoerli HyoDie bunten einfärbigen Ganzkörpertrikots vor wechselnden einfärbigem Hintergrund schaffen eine helle, entspannte Atmosphäre. Im letzten Teil wird vor einem hellblauen Himmel mit weißen Wolken getanzt. 80 Minuten lang gelingt es Heinz Spoerli die wohltuende Entspannung, die Bach bei ihm auslöst, in Tanz umzusetzen. Für das Publikum ist das kein müdes Abschlaffen, sondern eine Erholung, bei dem die Sinne aufmerksam und geschärft bleiben. Diese Wirkung wird von William Youn am Klavier meisterhaft und kongenial unterstützt und verstärkt. Spoerli Schoch

Der Abend ist ein wunderbarer Zugewinn für das Repertoire des Wiener Staatsballetts, einem Ensemble, das sich in den letzten Jahren verstärkt der Herausforderung stellen musste, seinen Platz zwischen Tradition und Moderne zu finden. Naharins und Spoerlis Choreografien liefern dafür eine idealtypische Vorlage.

Wiener Staatsballett: „Goldberg Variationen“, Premiere am 27. April 2023. Weitere Vorstellungen am 1., 5., 9., 15., 19., 20., 22., 25., 29. Mai an der Wiener Staatsoper