Das Ausmaß und die Bandbreite von individuellen und gesellschaftlichen Traumatisierungen können kaum überbewertet werden. Ursachen und deren Generationen übergreifende Wirkungen untersucht die iranisch-österreichische Choreografin, Tänzerin und Forscherin Ulduz Ahmadzadeh in ihrer jüngsten, hier uraufgeführten Arbeit „Ancestors’ Banquet“. Wie wirken die Traumata unserer Eltern und Großeltern in uns nach und weiter? Was machen Kriege mit denen, die sie selbst gar nicht miterlebt haben?
Im Foyer des brut Nordwest empfängt die BesucherInnen eine Tafel mit Sektglas-Pyramide unter einem Kronleuchter. Festlich angerichtet scheint der lange Tisch, an dem, wie mit verschiedenen Handschriften vorbereitete Platzkärtchen berichten, so einige Menschen imaginären Platz genommen haben. Die Schauspielerin Anne Wiederhold-Daryanavard schüttet ins Glas an der Spitze blutroten „Sekt“, der, man kennt das Bild, überlaufend von Etage zu Etage nach unten immer mehr Gläser füllt. Nebenbei erzählt sie von der Vererbung von Traumata bei Mäusen. Der Aspekt der physischen Vererbung von psychisch induzierten genetischen Konditionierungen, die Epigenetik, wird so mit schönem Bilde eingeführt.
Im großen Saal dann, der mit „Subcutan“ überschriebene und mit roten textilen Faszien verhängte Eingang verheißt das Eintauchen in tiefere Schichten, kracht der Sound bereits. Eine Tänzerin wedelt Rauch ins Publikum. Ein altes (nicht nur) iranisches Ritual zur Reinigung und Vertreibung negativer Energien. Der Bühnen-Himmel hängt voller aus Papier geschnittener Wirbelkörper. Tief hängende Rotlicht-Lampen umgrenzen die Bühne. Eine Blutabnahme und das daraus erzeugte Präparat fürs Mikroskop werden live auf die riesige rückwärtige Leinwand projiziert. Wieder die Biologie als ein Ort der Wirkung und gleichzeitigen Ursache.
Die vier exzellenten TänzerInnen Desi Bonato, Naline Ferraz, Flora Virag und, als einziger Mann, Xianghui Zeng bewegen sich, Opfer ihrer ererbten seelischen Konditionierungen, ihrer Sprach- und Hilflosigkeit und ihrer Lähmung, in Slow Motion, weit verteilt im Raum, zu zweit nah beieinander, von schnellem Positionswechsel unterbrochen. Nebel unter den Rotlichtlampen steigt auf, dringt ein in die psychisch-physische Haut und in die Blutbahn. Im Ausdruck ihrer individuellen Gestik und Mimik erzählen sie von sich und den Erfahrungen ihrer Vorfahren in Kriegen und Kämpfen.
Der Sound von Adrián Artacho entstand im Prozess der Stückentwicklung. Die Klänge illustrieren das Erlebte und dessen Einflüsse auf die Seele so organisch, sie führen die Zuschauenden in das Ein- und Mitfühlen. Flugzeuge, Bomben, Schüsse, und die TänzerInnen fallen und stehen wieder auf, es geht unter die Haut. Wie ferngesteuerte Wesen zucken sie als schwer Traumatisierte in ihrem Tanz.
Desi Bonato kommt mit dem Laubbläser und scheint die abgefallenen Blätter vom herbstlichen Boden zu pusten. Eine Reinigung von Hinterlassenschaften, die üblicher Weise als nährende Substanz in den stofflichen und geistigen Kreislauf eingehen. Das gemeinsam konzipierende KünstlerInnen-Duo Ulduz Ahmadzadeh und Till Krappmann trieb ihr Verantwortungsgefühl für ihre Kinder in die Auseinandersetzung mit (auch ihren eigenen) Traumata.
Einen Traum liest Anne vor, einen ihrer Mutter aus Kriegstagen, als sie noch ein Kind war und die Angst sie quälte, und Desi, den Oberkörper nun entblößt, erhält eine zweite Haut aufgelegt. Flora singt und tanzt Volkslied und -Tanz, Xianghui zeigt chinesisches Bewegungs-Material ohne Musik. Desi führt akrobatische Reihen, Salti, Rollen und Spagat in Rückenlage vor. Dressiert wie eine Turnerin. Die anderen tanzen ihr Getriebensein. Volkstümliches, Zeitgenössisches. „Don't stop! Continue!“ Xianghui erscheint mit den roten Faszien vom Portal auf seinem Körper. Empfindsam wie mit abgezogener Haut. Ein melancholisches ungarisches Lied dazu.
Eine diagonal ausgerollte silberne Bahn wird zum Amüsier-Viertel mit Disco-Sound und Glitzer-Kostümen, den Schmerz der Spiegelungen der Um-Welt narkotisierend. Textsplitter hinten: „Weinen ist schwach!“ „Trinken, um zu vergessen.“ „Das Vergangene ist vergangen.“ „Warum kann ich nicht sagen: I love you? Warum dich nicht umarmen, warum bin ich immer schuld?“ Wie Traumatisierungen sich äußern, ist vielfältig. Ihre Wirkungen als solche zu identifizieren, ein Anfang.
Und wie kann Heilung funktionieren? Anne liest Briefe des Großvaters aus dem 2. Weltkrieg. Die vier stehen vor uns. „Warst du Opfer oder Täter?“ „Hast du deine Großmutter je gefragt?“ Der zum Ende von den TänzerInnen gesuchte direkte Kontakt zu Einzelnen im Publikum mit dem Ziel, sich selbst zu konfrontieren und endlich darüber zu reden, und die abschließende elegische Live-Musik zwingen geradezu zur Einkehr. Lorina Vallaster (Stimme) und Anna Maria Niemiec (Violoncello, Stimme) intonierten ein Innehalten, ein Fragen, Suchen und Öffnen und gleichzeitig ein kurzes Requiem auf die vielleicht bald gewesenen eigenen Traumatisierungen.
Entscheidend für das Brechen mit der unbewussten Weitergabe von Traumata an die folgenden Generationen, die Unfähigkeit, darüber zu reden und zu trauern sind zwei entscheidende Aspekte, ist ein bewusst machender Umgang mit ihnen. „Ancestors’ Banquet“ beschreibt allgegenwärtige Mechanismen der Bewältigung der Wirkungen von Traumatisierungen. Das Gefühl des Nicht-Genügens wird kompensiert mit immer höheren Leistungen. Und die Leistungsgesellschaft heißt uns Willkommen! Die Generation Burnout zeugt von tief sitzenden Ängsten und selbst-sabotierenden Überzeugungen. Die Folgen, Aggression und Gewalt gegen sich selbst und seine Umwelt, prägen Gesellschaften weltweit.
Der Prozess der Erarbeitung des Stückes, in den alle Beteiligten mit individuellem biografischen Material eingebunden waren, führte in Situationen, deren emotionaler Gehalt letztlich prägend wurde für das Stück. Mit ihrem von ihren Herkünften und Ausbildungen geprägten Tanz, in ihren Kostümen und ihrer Sprache (sie reden italienisch, portugiesisch, ungarisch und chinesisch) erzählen die vier TänzerInnen ihre Geschichten, reden von der historischen und kulturellen Universalität des Phänomens. Die revolutionären Bestrebungen der Frauen im Iran, die sich gegen religiös argumentierte Unterdrückung wehren, sind nur ein Teil der mannigfaltigen kollektiven Traumata und deren Bewältigungs-Strategien.
Mit „Ancestors’ Banquet“ betreten Ulduz Ahmadzadeh und ihre Kompanie ATASH individuelle und gesellschaftliche Areale, die, einer Tabuisierung gleichkommend verborgen und doch ungeschützt, viel destruktives Potential enthalten und entfalten. Die Mechanismen der physischen und psychischen Vererbung von Traumata, die Wirkung auf die Erben und deren Umgang mit ihrem Erbe hebt das Stück in poetischen und emotionalen Bildern aus dem Dunkel des Verdrängten. Zudem, und das macht es so konstruktiv, weist es einen Weg aus den Spiralen einer schier endlosen Weitergabe von Traumata. Wie eine gut recherchierte, dringend benötigte Bedienungs- oder Handlungs-Anleitung für traumatisierte Individuen und Gesellschaften.
Ulduz Ahmadzadeh | ATASH mit „Ancestors’ Banquet“ am 27.04.2023 im brut Wien.