Unter dem vielversprechenden Titel „Unfolding Shapes“, der (Unterschiedliches an) Formen und Gestalten auszubreiten verspricht, präsentierte sich in Graz an drei Tagen ein vielbeachteter, vierteiliger „Tanzabend“. Entwickelt in überregionaler Zusammenarbeit einer jungen Generation von professionellen TänzerInnen und Choreographen aus dem Bereich des zeitgenössischen Tanzes.
Initiiert von Filip Löbl,(geboren in Tschechien, ab 2017/2018 Mitglied in der Tanzkompanie TANZLIN.Z, derzeit freiberuflich), der die Tanzszene in und rund um Graz einmal kennenlernen und dann bald (naheliegenderweise) das gegebene und eher kleine zeitgenössische Programmangebot vergrößern wollte, in Zusammenarbeit mit Xianghui Zeng und seiner in Graz gut verankerten Gruppe subsTanz. Vier Performances von vier Choreograf*innen und ebenso vielen unterschiedlichen Stilen und Themen waren das Ergebnis- und, ja, damit auch ein kleiner Glücksfall, eine tänzerischen Horizonterweiterung für Tanzinteressierte in dieser Stadt.
Dass subsTanz mit dem Tanzstück „Sky Burial“ den gut zweistündigen Programmreigen eröffnete, war durch die etwas aufwändigere Technik nicht nur Notwendigkeit, sondern auch klug: Lag bei diesem Stück der Fokus doch nicht nur auf Tänzerischem, sondern wurde durch die genialen Visuals des Motion- und Grafikdesigners, Medienkünstlers Peter Hutter wesentlich unterstützt und bereichert. Vor allem, weil es den komplexen Gedanken, die dem Konzept und der Choreographie von Zeng zugrunde liegen (mögen) – die da sind: Selbstüberschätzung des Menschen – Kraft der Natur – immer wieder doch ein wenig an einer nachvollziehbar strukturierten, tänzerisch kreativen und bewusstseinserweiterten Umsetzung fehlt: sowohl bei ihm selbst (wiewohl die Ausdruckskraft seines tänzerischen Könnens fühlbarer geworden ist) als auch bei seinen durchaus engagierten Tänzerinnen, für die (wieder einmal) weniger (sich wiederholender, etwas „beliebig“ wirkender Bewegung) mehr wäre. Ein wohltuend visueller Einstieg in die vielfältige Welt des zeitgenössischen Tanzes war es allemal.
Voll der überraschenden Facetten entwickelt sich in „KALILELE/ KALIBANJO“ (eine Wort Kreation aus appoKALYpse und ukuLELE) Faszinierendes wie Berührendes. Die Choreografin Tura Gómez Coll (geboren in Barcelona, Tanzausbildung ebendort und in Rotterdam, seit 2016/17 Mitglied in der Tanzkompanie TANZLIN.Z) thematisiert in ihrem Stück die Situation eines „Aussteigers“, eines Eremiten und seine Konfrontation mit „Besuchern“. Die hier außerdem gegebene, unmittelbare Verbindung von emotional (er)greifender, gezupfter Livegitarre (die Bühnenpräsenz ist/sei mit Gitarre eine bessere als die der Ukulele…), die der ausgebildete Tänzer Hodei Iriarte Kaperotxipi in eine Bühnenrolle zu verwandeln versteht, und Performativ-Tänzerischem ist überaus dicht – ob thematisch wie vorgeschlagen oder aber auch allgemeiner interpretiert. Da sprechen die Körper die ihnen gegebene, sehr individuelle (Tanz-)-Sprache, wenn „Eremit“ Filip Löbl seinen Emotionen gegenüber den oder mit den tanzenden „Besuchern“ Raum lässt. Dass es ausschließlich Tänzerinnen sind, inkludiert allerdings die Gefahr klischeehafter Interpretationen/Reaktionen im Sinne von: Frauen, die den Mann umkreisen, umwerben, hoffieren. Eine diesbezügliche Änderung könnte noch mehr Tiefgang bewirken. Das Miteinander im menschlichen Sein wäre bei all diesen überaus geglückten Bewegungsbildern, Installationen der Bewegung und musikalischen – auch gesanglich beeindruckenden - Inputs allgemeingültiger und damit das insgesamt Witzig-Dynamisch-Kreative im Ernsthaften der Thematik noch relevanter.
Shirin Rieser aus Graz hat in Wien an der MUK Tanz studiert und zeigte in ihrem kurzen Solo „Athmen“ eine Neubearbeitung eines 2022 unter diesem Titel in Graz gezeigten Duos. Fast noch mehr als damals manifestiert sich in ihrer hier gezeigten Soloarbeit ihr aufmerksam anderer, andersartiger Blick auf Alltägliches, das sie mit Distanz zu beobachten, aber auch mit hoher Sensibilität zu empfinden scheint. Sie spielt und tanzt mit dem im Zentrum stehenden eigenen Atmen – und misstraut dabei dem derart, also mittels Atem realisierbaren, hörbaren Wort zutiefst. In minimalistischen Bewegungen und gleichermaßen zurückgenommenem Ausdruck hält sie mit zarter Bühnenpräsenz den ebensolchen Spannungsbogen.
„Need“ von Filip Löbl ist ein „introspektives Tanzstück“. Eines, das sich einerseits getragen vom tänzerischen wie darstellerischen Können Nimrod Poles (aufgewachsen in Israel, Tanzausbildung ebendort; internationale Engagements in Europa, seit 2019/2020 ebenfalls Mitglied in TANZLIN.Z) in dramatisch-dynamischen wie verletzlich-hilflosen Szenen um das Thema Sucht dreht. Eines, das sich andererseits getragen von einer unglaublichen Vielfalt des technisch hochqualitativen, spannungsvollen wie sensiblen Zusammenspiels, des Mit- und Gegeneinanders der vier auf der Bühne in unterschiedlichen Konstellationen agierenden TänzerInnen (Nimrod Poles, Filip Löbl, Tura Gómez Coll, Beatris Scabora) tief, zum Teil schmerzhaft einprägt. Auch, weil es thematisch für vielerlei grundlegende Menschheitsthemen Denkanstöße oder Interpretationsmöglichkeiten bietet. Ein mehr als bemerkenswertes Beispiel für die Aussage-Kraft zeitgenössischen Tanzes. – was insgesamt für diesen Abend gelten darf; zusätzlich zur Erkenntnis, dass gemeinsames, zielstrebiges Wollen und Tun auch in der Kunst noch so (regional) sperrige Türen öffnen kann.
„Unfolding Shapes“, ein Tanzabend von vier verschiedenen Choreograph*innen am 19.Mai, Kristallwerk Graz