Beate Vollack, seit 2018/19 Ballettchefin im Grazer Opernhaus, setzte mit dem Ballettabend „Der Tod und das Mädchen“ einen markanten und überzeugenden Schlusspunkt unter ihre Arbeit an diesem Haus. Eine, die von künstlerisch mutiger Offenheit sowie Kommunikationsfähigkeit und -bereitschaft gekennzeichnet war.
So stand sie etwa nicht nur selbst (wieder) auf der Bühne (2019 als Stiefmutter in „Cinderella), sie stellte sich mit ihrer Choreografie des ersten Teils dieses Abends auch Seite an Seite mit der ihres Ballettmeisters Sascha Pieper im zweiten Teil – stellte sich damit also einem direkten Vergleich durch das Publikum.
Auch die Entstehungsgeschichte dieser Produktion erzählt von kreativer Flexibilität: Sascha Pieper hatte auf Bitte zweier zu Coronazeiten wenig beschäftigten Tänzer der Compagnie eine Choreografie für diese kreiert: „Der Tod und das Mädchen“ zu Franz Schuberts gleichnamigem Streichquartett. Nach der Uraufführung 2021 in Form eines Gastspiels in Eger (Ungarn) beschloss Vollack diese gelungene Choreografie auch in Graz zu zeigen; allerdings war eine abendfüllende Aufführung notwendig. In Erinnerung an David Philipp Heftis Wunsch, einmal für Ballett zu komponieren, gab sie dem international erfolgreichen Schweizer Dirigenten und Komponisten einen Werkauftrag für eine „Komplettierung“ des Abends. Im engen Austausch zwischen den beiden entstand ein Konzept, das in musikalischer Umsetzung ein zeitgenössisches Streichquartett ergab. Ein eigenständiges Werk, das atmosphärisch und mittels bearbeiteter Schubert-Zitate zu einem Art Vorspiel wurde und einen stimmigen Bogen über die beiden Teile spannt.
Unter dem von Vollack ersonnenen Titel „Ans Ende der Zeit“ eröffnet ihre tänzerisch moderne Auseinandersetzung mit dem Thema der Endlichkeit des Menschen einen intensiven, von eindringlicher Emotionalität getragenen Perspektivenreigen. Der Fokus in ihrer Choreografie ist auf den Umgang der meisten Menschen mit dem großen, unausweichlichen Unbekannten des Todes gerichtet: Er ist von Angst und Verdrängung getragen und geprägt. Hier beispielhaft aufgezeigt an einer Person, dem Mädchen (Lara Bonnel). Eingebettet in einer allgegenwärtigen Kraft, in einem Phänomen, das wir Zeit nennen (getanzt von Renata Parisi). Konfrontiert mit der allgegenwärtigen Tatsache eines Endes dieses Seins, das wir Tod nennen. Vollacks sehr originär gestellte, die Choreografie ihres Teils bestimmende Frage lautet: Welches dieser beiden Phänomene ist das entscheidende?
Einprägsam bedrohlich wie schützend umkreisen Tod und Zeit in einem ersten Bild ihr „Objekt“, den Menschen, der mit eingezogenen Schultern gebeugt in der Mitte steht. Aber dann wird im dreigeteilten Handlungsablauf (Auflehnung, Akzeptanz, Verenden) alsogleich auch das aufgezeigt, was an Kraft „auch“ in diesem steckt: In einem Menschen, der um sein Leben kämpft. Die getanzte Visualisierung einiger der dazu möglichen Gedanken und Empfindungen ist individuell auslegbar, aber immer greifbar und damit berührend. Gleichermaßen wie das immerwährende Vorhandensein von Zeit. Von dem, womit sie wohltut, umsorgt, schützt, beglückt, aber auch bedrängt, einengt, fordert. Die variierte und dynamische Sichtbarmachung in zeitgenössischen Bewegungssequenzen voller Ausdruck, vertieft das diesbezügliche Bewusstsein, während der Tod, in „unzähligen“ Variationen aber mit einem gemeinsamen, mit einem einzigen Ziel – beeindruckend, ja oft faszinierend getanzt von den Tänzerinnen und Tänzern des Balletts – seine Präsenz nie vergessen lässt.
All dies verstärkt, ergänzt, ummalt, vertieft und andersartig, zum Teil gegensätzlich zum Geschauten aufgeblättert, bewusst gemacht durch die eigenwillig gefühlvoll wie glasklare Musik David PhilipHeftis, eindringlich interpretiert vom PhilQuartett Graz (Yukiko Imazato-Härtl, Sebastian Gogl, Elke Chibidziura, Bernhard Vog).
Wohldurchdacht zurückgenommen die Kostüme Silke Fischers. Die schrittweise Entkleidung des Mädchens bekommt dadurch nicht weniger an symbolischer Kraft: Die Bedeutung des Materiellen, all der schützenden Masken nimmt ab, die Verletzlichkeit gleichzeitig freilich zu. Aber der wesentliche Kern, der bleibt, der überdauert – auch ohne Zeit, im Zeitlosen.
Leer und schwarz die Bühne – um auch nur einem Teil der Gedanken und Gefühle, der Mannigfaltigkeit der daraus entstehenden Bewegungen genügend Raum zu geben; sie dürfte nicht anders sein. So wie das Licht (Johannes Schadl), das in einfühlsamer Zurückhaltung Gefühls-Tupfer setzt.
Dass Sascha Piepers Choreografie dem Grazer Publikum nicht vorbehalten bleiben sollte, war eine richtige Entscheidung. Seine Ballettversion auf Spitze belegt mit gestrafftem Spannungsbogen und Dynamik die mögliche Lebendigkeit und damit das auch Zeitrelevante in der zum Teil tradierten Ästhetik.
Seine choreografische Umsetzung des Themas zum berühmtem Streichquartett von Franz Schubert stellt in den Mittelpunkt den Weg, den das Mädchen/der Mensch auf unterschiedliche Weise geht, wenn ihm sein naher Tod bewusstwird, spürbar naht oder aber auch, wenn er diesen Weg selbst wählt.
Pieper setzt immer wieder optisch wirksame, sehr klare, grafisch geformte Elemente ein: Von den Tänzern gebildete Linien etwa oder aber im Anfangsbild – sowie am Ende – ein von den „Toden“ gebildetes, nach vorne offenes Dreieck. Die damit assoziierbare Logik des Todes geht unter die Haut. Der Versuch ihres Durchbrechens – die Mädchen erproben es, indem sie durch die Spitze auf die Bühne rennen, um zu LEBEN – erst recht.
Mit „Verleugnung“ ist der erste Satz des Quartettes betitelt und macht in seiner tänzerischen Vielfalt (der menschlichen Verhaltensweisen) und der ihnen bevorstehenden Tode gänsehautartig das Unausweichliche klar. Wie insgesamt in dieser Choreografie sind es die zahlreichen faszinierenden, weil kreativ variierten und gleichzeitig emotional „handfesten“ Pas de deux: Die Hebungen, sie sprechen ganz besonders in der Art des Miteinanders, haben Aussagekraft neben der Ästhetik des immer wieder neu arrangierten, fesselnden Zusammenspiels zwischen exakten Ensembleszenen und solistischen.
Der zweite Satz, hier betitelt mit „Gedanken des Suizids“, der der Anfang dieser Arbeit Piepers darstellt, wurde für Lucie Horná und Christoph Schaller choreografiert. Er ist, nach der „Vorstellung“ der einzelnen Charaktere (und zu ihnen „gehörenden“ Tode) im 1.Satz, das erste Beispiel eines möglichen, eines gegangenen, eines gangbaren Weges. Und er zählt zu den tänzerisch-darstellerischen wie emotionalen Höhepunkten dieses Abends: Es ist eben eine Rolle geschaffen für Horná. Ihre Hingabe und Auflehnung, ihr Fliehen und ihr Loslassen stehen in einem (auch choreografisch) ergreifenden Kontrast zu Zielstrebigkeit, Machtausübung, und Triumph des Todes (in einem faszinierenden Solo); nicht zu vergessen die Art von Zärtlichkeit, die zwischen beiden aufkommt.
Mit ausdrucksstarker Klarheit und Unbeirrbarkeit überzeugt Ann- Kathrin Adam in „Aussichtslosigkeit“- ja, gerade diesem Titel zum Trotz. Rosa Maria Pace und Lorenzo Galdemann bezaubern in „Sorglosigkeit“ mit ihrem Pas de deux und kreativen Hebungen. Das (grafische gestaltete) Bild ihrer Aufnahme in das Reich der Toten prägt sich ein.
Vergleichbar mit den bedrohlich über die Bühne rasenden Tode im letzten Satz „Endgültigkeit“ und dem wunderbaren abschließenden Gang des Todes in einer Linie, unter dem und zwischen dem eine nach der anderen tot zusammenbricht.
Ein außergewöhnlicher Tanzabend, dem es an bedenkenswerter Aktualität nicht mangelt.
Ballett der Oper Graz: „Der Tod und das Mädchen“ – „Das Ende der Zeit“ in der Choreografie von Beate Vollak, Musik David Philip Hefti; „Der Tod und das Mädchen“ in der Choreografie von Sascha Pieper, Musik Franz Schubert. Premiere am 24. Mai, weitere Vorstellungen am 31. Mai, 15. und 17. Juni in der Oper Graz