Wie die Vorstellung einer Langspielplatte mit den Seiten A und B und insgesamt neun Jazz-Songs gestalten die Choreografin und Tänzerin Naïma Mazic und die Vibraphonistin, Perkussionistin und Komponistin Evi Filippou ihre Auseinandersetzung mit dem Begriff der Muse. Konzert, Tanzperformance und kritische Reflexion verschmelzen sie in dieser Uraufführung zu einem poetischen Ganzen.
Wohnzimmer-Athmosphäre. Die Stehlampe neben dem Plattenspieler, links das Schlagzeug und das Vibraphon, hinten an der Wand neun LPs und der von der Decke hängende, bis auf den Boden fließende Mondriansche Vorhang laden ein, sich's richtig gemütlich zu machen. Doch die Behaglichkeit, die die beiden Frauen entwickeln, ist trügerisch.
Naïma Mazic sucht in ihren Arbeiten die Verbindung von Jazz und Tanz. Die Wienerin studierte am P.A.R.T.S. in Brüssel, an der Reykjavik Academy of Arts und an der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien. Sie wuchs als Tochter des Jazz-Musikers Matthias Rüegg mit und in der Jazz-Musik auf. Sie tanzt, ermutigt von ihrem Vater, nach vielen choreografischen Arbeiten für andere TänzerInnen hier erstmals selbst. Ihr Debut meistert sie mit Bravour, ausdrucksstark und stilistisch breit gefächert. „ALBUM, the muse at work“ ist eine musikalisch höchst anspruchsvolle Performance. Die in Berlin lebende Griechin Evi Filippou brilliert am Vibraphon und an den Drums.
Naïma stellt die MusikerInnen vor, deren Musik sie für ihr imaginäres Album auswählte. Neun Jazz-Songs, Frauen gewidmet, von Frauen komponiert, von Frauen interpretiert. Sie legen Platten auf, Evi improvisiert zu Werken der Jazz-Literatur und spielt ein eigens für sie und ihr Vibraphon arrangiertes Stück. Und zuweilen tanzt Naïma.
Mit Carla Bley's Song „Lawns“ aus dem Album „Sextett“ von 1987 eröffnen sie. Die vorsichtige, respektvolle Annäherung an Musik und Kunst der nur auf Platte oder im Geiste anwesenden Ko-PerformerInnen prägt das Stück. Naïmas Tanz erzählt bei einer gemeinsamen Improvisation mit Evi Filippou am Vibraphon über die schwedische interdisziplinäre Künstlerin Moki Cherry, die eine 25-jährige künstlerische und private Partnerschaft mit dem amerikanischen Jazz-Musiker Don Cherry verband, von Einfluss und wachsamer, zurückhaltender Aneignung.
Moki's Vision „the stage as a home, and the home as a stage“ bezeichnen Mazic und Filippou als ihre – visuell und habituell deutlich sichtbar gemachte – Kern-Inspiration für dieses Stück. In ihrem Bühnen-Zuhause agieren die beiden Performerinnen als wandelbare Partnerinnen. Für jedes Musikstück gewechselte Kostüme (Design: Naïma Mazic), ein variantenreiches Bühnen-Setup (Hanna Naske) für die Präsentation der so unterschiedlichen Songs, gemeinsame oder Solo-Aktion, viel eingespielter und life vorgetragener Text (Maeve Johnson und Naïma Mazic) und vor allem eine dramaturgisch geschickt gewählte Reihenfolge der Songs verweben sie zu einem zweiteiligen Konzert-Tanz-Ereignis mit kritischem Blick auf die Rolle der Muse.
Die beiden Performerinnen sind einander Musen. Sensibel aufeinander reagierend entwickelt sich ein Spiel gegenseitiger Inspiration. Mit elektronisch erzeugten, mehrspurig eingespielten Frauenstimmen und Saxophon-Fetzen und der dann beigefügten Life-Begleitung am Schlagzeug, erzeugt Evi Filippou einen komplexen Klangteppich, zu dem Naïma Mazic zeitgenössisches Bewegungsmaterial präsentiert. Die in mehreren Layern geloopten Stimmen langsam ausblendend lässt Evi den Sound verklingen.
Free-Jazz am Klavier, „Zoning“ von Mary Lou Williams, wildes Geklimper, so scheint es, tanzt Masic in einem auf den Boden gezeichneten Neuneck. Sie schreitet die Kanten ab, verbindet die Ecken mit Moves, die auch Urban Dance zitieren. Zum Vibraphon steppt Masic, bleibt mit ihrem rhythmischen Tanz akustisch allein zurück. Die Freude der beiden beim Musizieren und Tanzen überträgt sich. Sie umarmen sich. Alice Coltrane (die Tochter von John) am Piano und Pharoa Sanders am Saxophon. Die Umkehr von Muse und Schöpfer. Viele aus dem Publikum legen sich auf die Bühne und lauschen im gedämmten Licht. Das war die A-Side.
Bill Evans' Song „Laurie“ leitet die B-Side ein. Eingespielter Text. Die Geschichte der komplexen Beziehung zwischen Laurie Verchomin, einer kanadischen Schriftstellerin, die auch Piano, modernen Tanz und Theater studierte, und dem amerikanischen Jazz-Pianisten Bill Evans. In ihren Memoiren erzählt sie von Liebe, Sex, Drogen, Spiritualität und Jazz, reflektiert die amerikanischen sozio-kulturellen und patriarchalen Rahmenbedingungen für eine Musen-Künstler-Beziehung in den 70ern. Masic post: eine ungemein anmutige, vielleicht auch etwas blöde Muse. Wow!
Mit dem von Matthias Rüegg 2011 komponierten und jetzt für Vibraphon arrangierten Song „Something about Eve“ zeigt Evi Filippou, die für ihr Debut-Album „inEvitable“ 2023 mit dem deutschen Jazzpreis ausgezeichnet wurde, ihre ganze Klasse. Ihr äußerst gefühlvolles, höchst virtuoses Spiel begeistert. Mit ihrer Klang-Poesie dringt sie ein in selten berührte, tief liegende Schichten. Wie nach jedem der Songs Zwischenapplaus. Hier aber mit Jubel durchsetzt.
Zu „First Song for Ruth“ von Charlie Haden tanzt Naïma Mazic, auf einem Hocker in warmem Licht sitzend, eine Geschichte von Mühen, Aufopferung, Selbstaufgabe, dem Traum zu fliegen und der Unfähigkeit, aufzubegehren, von Leidenschaft und einer sehr weiblichen Hingabe, vom Annehmen ihres Schicksals.
In einem überlangen weißen Rock nun steht Naïma im Lichte eines senkrechten Deckenspots, posiert wie ein Modell für einen Maler. Oder die Muse für einen Musiker. „Just for a Thrill“, komponiert und gesungen von Lil Hardin Armstrong in den späten 30ern. Naïma dreht sich auf einem Teller, die Schleppe wickelt sich um ihre Füße. Ein Herzschlag wummert. Sie wirft den Rock ab. „Naïma“ von John Coltrane. Sie tanzt modern, Disco, langsam. Evi kommt für einen Kuss vorbei und setzt sich ans Schlagzeug. Drums und Herzschlag, Naïma tanzt im Raum. Selbstermächtigung. Stark. Sie dankt allen Beteiligten.
Die beiden Frauen spielen mit dem Begriff Muse, wenden ihn hin und her, betrachten ihn aus verschiedensten Perspektiven und entdecken neben der damit verbundenen Inspiration auch Herabwürdigung, Entmündigung und Diskriminierung. Neben all dem aber ist das mit einer Pause fast zweistündige Stück ein feministisches Manifest, das als Multi-Layer-Kunstwerk ihre Kraft, Schönheit, Intelligenz und Kreativität zeigt.
Naïma Mazic mit „ALBUM, the muse at work“ am 13.10.2023 im brut Wien.