Das Handlungsballett habe in Graz eine lange und geschätzte Tradition. Und so eröffnete Dirk Elwert, seine erste Saison als Ballettchef im Grazer Opernhaus auch mit eben dieser Kunstform des Tanzes. Verbunden nichtsdestoweniger mit der Intention, in folgenden Produktionen eine möglichst breite Palette dieser körperbasierten Bühnensprache zu vermitteln; den Blick zu richten auf ihre formal wie inhaltlich variierenden ästhetischen, unterhaltsamen, hinterfragenden und Perspektiven erweiternden Optionen.
Dass das Thema des Handlungsballetts ein heutiges sein müsse, war dem erfahrenen Tanzmanager Elwert selbstverständlich. Nicht selbstverständlich hingegen war, wie man ohne Libretto und ohne gegebener Komposition Virginia Woolfs richtungsweisenden Roman zeitgemäß relevant auf die Tanzbühne bringen könnte. Gemeinsam mit der aus Irland stammenden, international erfolgreichen Choreografin Marguerite Donlon, die schon lange dieses Werk choreografieren wollte, wurde schließlich ein Weg gefunden: Ein markant eigenwillig kreativer und nicht zuletzt einer, der mit wohlüberlegt eingestreutem Humor das ebenso große wie tiefgründige Thema der Selbstfindung motivisch fokussierend umkreist.
In einem prächtigen, einem prallen Gesamtkunstwerk. Und was wäre schon stimmiger für eine dargestellte Zeitspanne von gut 350 Jahren, in deren Verlauf (nicht nur) die eigene Wahrheit in einem turbulenten Auf und Ab der Ereignisse und Gefühle gesucht wird.
Die fast ausnahmslos leere Bühne, für die neben der Inszenierung und Choreografie Marguerite Donlon verantwortlich zeichnet, wird hin und wieder von riesigen, vom Schnürboden hängenden, durchscheinenden und farblosen Stoffbahnen strukturiert: optisch und atmosphärisch wunderbar zurückhaltend gestaltend. Umso mächtiger und raumergreifender die zum Großteil illustrierenden, teilweise aber auch abstrakt andeutenden Videos von Lieve Vanderschaeve. Auch wenn sie manchmal nahe an Eventcharakterlichem vorbeihuschen, sind sie, da durchgehend mit geschmacklichem Fingerspitzengefühl gestaltet, derart beeindruckend, dass man sich ihrer Faszination nicht entziehen kann und dank der Kraft des Tanzes auch kaum möchte. Kaum, denn – bei allem homogenen Einsatz – ist das eine und andere Mal eine visuelle Überforderungen, respektive eine damit bewirkte Ablenkung gegeben von dem, was an körperlicher Ausdruckskraft an Vermittlungs-Intensität im Grunde genügte.
Epochen und Menschen mit „wenigen Strichen“ skizzierend: die Kostüme von Silke Fischer. Die durch schnellen und mehrmaligen Wechsel in diesem Bereich wohl auch notwendigen Reduktionen sind derart treffend so wie in ihrer (teilweise) symbolischen Andeutungskraft ein visuelles Vergnügen und gleichzeitig ein wohltuender „Entspannungsfaktor“ in der Turbulenz des Geschehens.
Turbulenz ist in gewisser Weise auch ein Charakteristikum für die trefflich ausgewählten Musikstücke, die gleichermaßen zwanglos wie kontrastreich mitreißend englische Musikgeschichte mehrerer Jahrhunderte widerspiegelt. Das zumeist nahtlose Ineinander der Melodien und der stark variierende Rhythmen sind unter der musikalischen Leitung Marius Burkerts unterstreichende wie auch vertiefende akustische Bereicherungen auf dem verschlungenen Weg Orlandos und seiner Begleiter.
Das, was Donlon choreografisch und Elwert dramaturgisch mit der neu zusammengestellten Grazer Ballettcompagnie (18 TänzerInnen, sechs von ihnen neu dazugekommen) in den zahlreichen Szenen der zweiaktigen Romanumsetzung auf die Bühne stellen, ist inhaltlich überzeugend verwurzelt wie denkanstoßend und tänzerisch dynamisch kreativ umspielt.
Die Tanzsprache changiert nachvollziehbar und erhellend: Eingestreute Ballettposen und kurz zitierte, klassische Pas de Deux-Bewegungsfolgen im Fluss werden abgelöst und erweitert durch die emotionale und individuelle Aussagekraft zeitgenössischen Tanzes, getragen von überraschender, ja formloser, suchender Widersprüchlichkeit. Die hier zum Tragen kommende „Turbulenz“ entspricht wunderbar dem der Zerrissenheit des sich suchenden Orlando. Lucie Horná entspricht als facettenreicher Orlando den an sie gestellten hohen Anforderungen voll und ganz. Einerseits in der ihr eigenen, geschmeidigen und technisch fundierten tänzerischen Fähigkeit und andererseits in der von Donlon vergleichsweise stark geforderten – und eine weitere Ausdrucks- und Vermittlungsebene einziehende – Gestik und Mimik. Ihre hier zum Tragen kommenden darstellerischen Fähigkeiten sind bemerkenswert in der Stärke der vermittelten Feinsinnigkeit; was für ihre Soli wie auch für Duette mit sehr unterschiedlichen PartnerInnen gilt: mit Henrietta (köstlich:Christoph Schaller) und kongenial mit Shelmerdine (Leonardo Germani).
Im Duett mit ihr so wie in Solis besonders hervorzuheben ist weiters Thibaut Lucas Nury, der als fieser Mr. Green nicht nur grundsätzlich eine Paraderolle innehat, sondern auch als hoch präsenter, darstellungsstarker und (im wahrsten Sinne des Wortes) außer-gewöhnlicher Tänzer brilliert.
Insgesamt ist die Leistung des Corps de ballet und ihres (choreografisch immer wieder überraschenden wie bezaubernden) Zusammenspiels mit den Solisten ein überaus gelungenes. Berechtigterweise galt der (einmal einsetzende) Szenenapplaus Orlandos Rückkehr als Frau in seine Heimat in Konfrontation mit seinem/ihrem früheren ‚Gefolge‘. Zur Marschmusik Nr.1 aus „Pomp und Circumstances“ von Edward Elgar präsentiert sich hier ein Sittenbild britischer Ordnung der Spitzenklasse.
Langer, verdienter Applaus nach gut 1 ½ intensiven Stunden spartenübergreifender Tanzkunst.
Ballett der Oper Graz: „Orlando“ Ballett nach dem gleichnamigen Roman von Virginia Woolf. Ch: Marguerite Donlon: Premiere am 21.Oktober 2023 in der Oper Graz, weitere Vorstellungen: 25., 29. Oktober, 1., 9., 11., 17. November, 1., 9., 20. Dezember