Es wummert und es summt. Caroline Finn siedelt ihre „Romeo und Julia“-Geschichte in einem Umspannwerk an, ein Imker nimmt den Platz von Pater Lorenzo ein. Gleichzeitig verdichtet sich Prokofjews Musik in der gekürzten Fassung auf Hochspannung zu beinahe unerträglicher Dramatik, der auf tänzerischer Ebene nur teilweise entsprochen wird. Dennoch: ein spannender und durchaus interessanter neuer Zugang zu einem alten Stoff.
Das unsterbliche Thema von „Romeo und Julia“, die aufgrund von unüberbrückbaren Hindernissen nicht erfüllbare Liebe zwischen zwei jungen Menschen, ist bereits vor Shakespeare mehrmals in literarischen oder mythischen Geschichten behandelt worden. Die Musik von Sergej Prokofjew für ein getanztes Drama – das seine Welturaufführung 1938 in Brünn in der ehemaligen Tschechoslowakei in der Choreografie des kaum bekannten Ivo Váňa Psota feierte – wurde zu einem Meilenstein der Ballettliteratur. Auf vielen westlichen Bühnen behaupten sich noch immer die traditionellen Fassungen, allen voran von John Cranko und Kenneth McMillan. Doch die Reihe von Choreograf*innen, die sich mit dem Stoff auseinandergesetzt haben, ist schier endlos.
Im Gegensatz zu vielen ihrer Kolleg*innen, die die Rivalität zwischen den veronesischen Familien Capulet und Montague auf zeitimmanente Spannungen projizieren, wählt Caroline Finn einen umfassenderen Zugang. Um die leidenschaftliche Liebesbeziehung der Jugendlichen herum, werden heutige Erziehungsmethoden und die Umweltproblematik ins Spiel gebracht. So treten die Familien mit Rasenmähern auf als Symbol für die übertriebene Vorsorge, mit denen Eltern ihren Kindern den Weg ins Leben ebnen. Gleichzeitig versprühen sie giftige Gase aus Spraydosen.
Im Umspannwerk, in dem sich das Drama entfaltet, ist der Tod allgegenwärtig. Schwarze Vögel fallen vom Himmel, Menschen kippen um, Mercutio wird von Tybalt in einen Hochspannungsmast gestoßen, Julia kollabiert und als Romeo zurückkehrt meint er sie tot. Der Imker sammelt die toten Tiere und Menschen auf und verliert dabei immer wieder den Überblick. Till Kuhnert hat ein Ambiente entworfen, in dem Häuser und Menschen gegenüber den Hochspannungsleitungen winzig sind und das auf einer Drehbühne bedrohlich in Bewegung gerät.
Finn geht davon aus, dass die Geschichte bekannt ist. Die familiäre Feindschaft, die die beiden Jugendlichen schließlich in den Tod treibt, wird auf der Bühne nicht nachvollziehbar. Die Clans unterscheiden sich in der Farbgebung ihrer Kostüme (von Catherine Voeffray), aber nicht in ihrem Verhalten und haben keinen – auch keinen feindseligen – Kontakt zueinander. Die Aversion des ambivalent gezeichneten Tybalt gegen den „campen“ Mercutio ebenso wie Romeos Rache ist keine cosa nostra, sondern rein persönlich. Dabei geht mitunter die dramaturgische Logik unter.
Hingegen gelingt es Finn, die Gefühle der handelnden Personen hochemotional zu verkörpern: Im Imker (Ilia Dergousoff), der einmal verzweifelt, und dann wieder resigniert mit Tod und Zerstörung umgeht. In einer amour fou von Romeo (Lorenzo Ruta) und Julia (Fleur Wijsman), die nicht voneinander lassen können – die Balkonszene spielt hier auf eine Wippschaukel. Und vor allem in packenden, dynamischen Ensembleszenen, die die rhythmische Wucht der Musik unmittelbar verstärken.
Das Linzer Ensemble meistert die Herausforderung der Choreografie souverän und beweist wieder seine ausgezeichnete tänzerische Qualität. In der großartigen Akustik des Linzer Musiktheaters entfaltet sich Prokofjews Score unter der Leitung von Marc Reibel auf wunderbar differenzierte Weise.
Tanz am Landestheater Linz: „Romeo und Julia“ Ch: Caroline Finn, am 2. November im Musiktheater Linz (Premiere am 7. Oktober). Weitere Vorstellungen am 17., 22. November, 11. Dezember 2023, 21. Jänner, 23., 29. Februar, 21. März, 1., 12. April, 17. Mai, 11. Juni 2024.