Alle im komplett ausverkauften Festspielhaus standen am Ende und bejubelten in dieser Österreich-Premiere eine beglückte Choreografin und ihre ebenso dankbare Kompanie. Der zweiteilig angelegte Abend versöhnte nach einem gewaltigen Auftakt mit elektronischem Sound und frei gelassenen TänzerInnen mit seinem zweiten, sehr viel gefälliger choreografierten Teil zu Beethovens 7. Symphonie das Publikum. Zwischen den Polen gab es neben thematischen Brücken kaum etwas Bindendes. Außer einem fantastischen Ensemble.
„Ein Abend der Kontraste“ wird im Programmheft angekündigt. Sehr zu Recht. Musikalisch könnte die Gegensätzlichkeit kaum größer sein. Wuchtige elektronische Klänge treffen auf einen Klassiker der symphonischen Weltliteratur. Strukturell begegnet eine weitgehend frei gestaltete Klanglandschaft einer viersätzigen, die Regeln der klassischen Kompositionslehre feiernden Symphonie. Choreografisch erleben wir wechselseitige Inspiration von Tanz und Klang, dann Interpretation von Musik. Tänzerisch werden Freiheit und Ordnung zu Bewegung.
„Freiheit/Extasis“ betitelte der gefragte, inzwischen in Berlin lebende chilenische zeitgenössische Komponist und Sound-Designer Diego Noguera sein Auftragswerk, entstanden in drei Wochen parallel zu den Proben. Es kracht, kratzt und dröhnt, steigert sich langsam, aber unausweichlich in ein wahrlich markerschütterndes Finale. Die Bässe und Drums dröhnen so laut, dass das Gestühl und die Brust vibrieren.
Der Titel war für die international renommierte Choreografin Sascha Waltz programmatisch für diesen ersten Teil. Mit fremdartigen, vielleicht Helmen von Aliens ähnelnden Masken auf den Köpfen bewegen sie sich in Slow Motion auf der düster gehaltenen, nebligen Bühne. Atmosphärische Bilder und Klänge, animalische und unnatürliche Bewegungen, sie verrenken und verdrehen sich in ihren hellblauen Kostümen. Sie scheinen wie vom Himmel, aus den Wolken gefallen. Nach einem kurzen Blackout, die Helme sind weg, einige tragen nun Brustpanzer, beginnt die Suche, die Orientierung.
Dann Wildheit und Chaos. Schnelle Wechsel Slow-Fast in den Bewegungen, kurze Begegnungen in Duetten und kleinen Gruppen. Sie rücken eng zusammen, winden sich wie ein Organismus, helle Spots, die Bässe hämmern unerbittlich, ein Tänzer abseits. Sie entreißen etwas - sich - dem Boden, scharren, stampfen und tanzen barfuß, erdgebunden, kraftvoll und synchron, sie schwingen Körper und Arme mit ihrem Blick nach oben, gehen langsam, die Arme breit, einige zucken, einer trägt wieder Maske. Alle sind schon weg, als er, allein im immer schneller wummernden Sound, zuckt und krampft und liegen bleibt. Ein Tusch erlöst das Publikum aus der Hochspannung, aus dem ekstatischen Rausch.
Zusammenrottung und Individualisierung, Sozialisation von Vereinzelten, Organisation von gesellschaftlichen Strukturen, sich seiner selbst bewusst werden, Individualismus, das Erwachen des Glaubens (an alte und neue Gottheiten) und dessen mühelose Ausbreitung, und das Individuum in der Gesellschaft mit Selbstbehauptung, Verzweiflung, Entfremdung, Regression. Die Wucht der Klänge, düster, drohend, subversiv, aber auch erlösend, enthebend einer bedrückenden Enge, erzählt von einer Dringlichkeit. Sie gleicht der Kraft des Tanzes, mit der dieser nach Freiheit ruft. Nach der Freiheit der Individuen und der Gesellschaft als Ganzes. „Freiheit/Extasis“ ist ein Klang und Bewegung, Licht und Kostüme organisch verschmelzendes, großartiges Stück zeitgenössischen Tanzes.
Symphonie Nr. 7 in A-Dur op. 92, wie sie vollständig heißt, komponierte Ludwig van Beethoven 1811-1812 als „eine weitere musikalische Auseinandersetzung mit Napoleon und dessen Politik, dieses Mal im Kontext der europäischen Befreiungskriege von der jahrelangen napoleonischen Vorherrschaft.“ Diesen Ansatz des Komponisten versucht Sasha Waltz ins Heute zu heben, ihn „neu zu kontextualisieren“. Normierungen durch die Gesellschaft versus individuelle Freiheit. Und: Beethovens Musik hat wegen ihrer dominanten Rhythmik ausgeprägte, verlockende tänzerische Qualitäten.
Die vier Sätze sind ihrem Charakter nach höchst unterschiedlich. Den ersten, „Poco sostenuto – Vivace“, tanzen die TänzerInnen in weiß. Lange Kleider die Frauen, Hosen die Männer. Umarmungen, Laufen, heitere Stimmung. Die tänzerischen Aktionen starten aus den Reihen am Rand. Sie interpretieren die Musik mit Bewegung. Ein Opernball-Defilee, ein Kreis, sie drehen und schwingen sich. Liebliche Duette. Kurze Ausbrüche Einzelner. Gefangen in Traditionen und Konventionen suchen einige den Weg hinaus.
Der zweite Satz „Allegretto“ ist getragen, feierlich. Die Kompanie tanzt in schwarzen Kostümen, die Oberkörper frei respektive hautfarben bedeckt (Kostüme von Federico Polucci und Bernd Skodzig). Die Extremitäten und Oberkörper schwingen, ein Paar in intimer Nähe, Zitate des Ausdruckstanzes, Zärtlichkeit und Weichheit. Und trotz alledem: Kühle.
Im dritten Satz, „Presto“, wird es - natürlich - schneller. Sie setzen virtuos die Füße, wiederholen Gesten, schnellen die Hand aus der Hüfte vor, straucheln, drehen sich mit ausgebreiteten Armen. Die Dynamik des Tanzes wird durch die Musik gesteuert. Das V in der Formation und als Armhaltung. Victory? Eine Frau schwingt eine riesige halbtransparente Fahne. Für alle FeministInnen (hier setzt der Autor bewusst die männlich-weibliche Form), Klimaaktivistinnen und sonstige Kämpferinnen und Kämpfer für die Gleichberechtigung der Frauen. Alle straucheln, posen, hüpfen wie Pferde. Ein Paar bleibt nach dem Ende der Musik. Es tanzt kämpferisch.
Fanfaren eröffnen den vierten Satz. Schnell die Musik, „Allegro con brio“, geradezu stürmisch. Das Ensemble bildet lange Reihen im Bogen, sie gehen, drehen sich, schwingen Hüften und Beine. Eng beieinander die Hände hoch, ruppig, zackig die Körper. Sie werfen die Hände in eine Richtung. Protest. Kampf. Capoeira. Sufi. Sie gehen in Gruppen. Wieder der Bogen und das Werfen der Hände ...
Das Tonkünstler-Orchester ist eine Ohrenweide. Dirigent Titus Engel führt seine MusikerInnen souverän durch die Stimmungen des Werkes. Anders der Tanz in „Beethoven 7“. Er wirkt gewollt, rational intendiert, nicht aus dem Herzen kommend und dieses adressierend. Man spürt in dieser Choreografie, dass die Choreografin sie schaffen WOLLTE, nicht MUSSTE. Diese fehlende innere Dringlichkeit macht sie zu einem mechanischen, kühlen Unterfangen. Was sie rettet, ist die Kompanie. Die Kraft der TänzerInnen überragt die der Choreografie des zweiten Teils. Das Potential der Kompanie durfte sich vor allem im ersten Teil entfalten.
Die Kompanie ist altersdivers (sie sind bis zu rund 50 Jahre alt) und besteht aus ausgesprochen expressiven TänzerInnen-Persönlichkeiten. Edivaldo Ernesto, der einzige Schwarze im ethnisch bunt gemischten Ensemble, sticht alle aus. Seine Kraft, seine Energie und Ausdrucksstärke stellt die Anderen in einen Schatten, in den sie eigentlich nicht gehören. Weder er noch die Choreografin scheinen es zu wollen. Er kann einfach nicht anders.
Nach dem überwältigenden „Freiheit/Extasis“ erscheint „Beethoven 7“ blass. Weil die elektronische Musik von Diego Noguera direkte körperliche Reaktionen und einen ebensolchen Tanz evoziert, geradezu erzwingt. Die emotionsarme Choreografie des zweiten Teiles scheint die Musik lediglich zu illustrieren. Das ist zu wenig. Man fühlt sich wie in einem von seiner Handlung befreiten Handlungsballett, dessen dort übliche Bildsprache reduziert wurde auf eine rhythmisch-dynamische Übersetzung der kompositorischen Merkmale und Intentionen.
Dennoch: Tradiertes in Form und Inhalt durchsetzt Sasha Waltz mit Zeitgenössischem, Der wahrlich tiefe Graben zwischen den zwei Stücken wurde für manch einen zur unüberbrückbaren Kluft, zu einer nicht bewältigbaren Herausforderung. Für die Entscheidung, ihr Publikum dennoch mit dieser Aufgabe, ja mit diesem Affront konfrontiert zu haben, gebührt dem Festspielhaus und seiner künstlerischen Leiterin Bettina Masuch und der Choreografin größter Respekt. Weil das Ausbrechen aus Gewohntem und das Aufbrechen von Liebgewordenem entscheidend ist für die mit diesem Abend ein weiteres Mal eindrucksvoll formulierte Not-Wendigkeit von grundlegendem Wandel. Gesellschaftlich, vor allem aber, und zuerst, individuell.
Sasha Waltz & Guests mit „Freiheit/Extasis“ und „Beethoven 7“ am 25.11.2023 im Festspielhaus St. Pölten.