Im letzten Jahr hat Sidi Larbi Cherkaoui die künstlerische Leitung des Ballet du Grand Théâtre de Genève übernommen. Nun hat sich die Compagnie mit ihrer neuen Ausrichtung bei einem Gastspiel im Festspielhaus St. Pölten vorgestellt. Mit „Skid“ von Damien Jalet stand ein Signaturstück zeitgenössischen Tanzschaffens auf dem Programm, in dessen Schatten das farbenintensive Stück des Abends, „Vïa“ von Fouad Boussouf verblasste.
Eigentlich ist der Tanz bestens geeignet existentielle Zustände zu verkörpern. Doch nur selten gelingt das im Bühnentanz so überzeugend wie in Jalets „Skid“. Die Ausgangslage ist dabei der Schlüssel: eine 36 Grad geneigte Spielfläche, auf der 17 Tänzer*innen gegen die Schwerkraft ankämpfen oder sie nützen.
Wenn sich der Vorhang hebt, wähnt man sich angesichts der gleißend metallisch glänzenden Konstruktion wie vor einer Filmleinwand. Und dieser Eindruck verstärkt sich, wenn sich allmählich Körper über die obere Kante schieben und an der Fläche hinunter rutschen, erst einzeln, dann in Grüppchen. Immer gewagter gleiten sie aneinander vorbei, erwischen einen Arm oder ein Bein eines Anderen, bremsen die Abwärtsbewegung oder beschleunigen sie, versuchen gegen den Zug nach unten anzukommen und landen schließlich in Nichts – im unsichtbaren Raum unterhalb der Leinwand. Das Ganze hat etwas Spielerisches, Lustvolles, ja Humorvolles, etwa wenn einige der Tänzer*innen ihre Hinterteile in einer Reihe über die obere Kante hängen und diese in einem grandiosen Lichteffekt gerahmt werden (Lichtregie: Joakim Brink). Dazu entfaltet sich ein kolossaler Sound, der sich im Laufe des Stücks zu einem epischen Klangteppich verdichten wird (Christian Fennesz, Marihiko Hara).
Im zweiten Teil wird die Chose umgedreht: mit martialischer Anstrengung und ebensolcher Energie – in Kostümen wie Uniformen von Paul Lespagnard– streben die Tänzer*innen nicht mehr der Schwerkraft entgegen. In einem Versuch sie zu überwinden, klettern auf der glatten Fläche hinauf. Kommen sie allein nicht mehr weiter, suchen und finden sie die Unterstützung der anderen, bis sie sich alle am oberen Ende der Schräge an den Händen haltend in einer V-Form positionieren.
Gleich wird der Mittlere stürzen und sich im Zentrum der Fläche in einer Art Kokon, der an Seilen hängt, wiederfinden. Darin entkleidet er sich langsam, befreit sich aus der Umhüllung. Nackt geht er in gebückter Haltung die Wand hinauf (ein aufrechter Gang ist physisch nicht möglich). Oben angekommen richtet er sich auf – und fällt ins Ungewisse …
Das Spiel mit der Gravitationskraft wird zu einer großartige Metapher für Scheitern und Resilienz, für Fügung in und Überwindung von äußeren Kräften. Gleichzeitig stellt Damien Jalet ein rigoroses Gegenstück zur Tradition des Bühnentanzes her, bei dem über Jahrhunderte hinweg die Überwindung der Schwerkraft im Mittelpunkt stand. In „Skid“ ist sie spielbestimmend und leitet das Geschehen. Die Genfer Balletttänzer*innen erfüllte diese ungewohnte Herausforderung souverän. (2016 wurde das Stück übrigens für die GöteborgsOperans Danskompani kreiert, die im September die Saison am Festspielhaus eröffnete – tanz.at berichtete).
Mit „Skid“ hat Damien Jalet einen Meilenstein des zeitgenössischen Tanzes geschaffen, der die conditio humana mit intensiver Dringlichkeit vor Augen führt. Mit seiner Erfahrung in unterschiedlichen Disziplinen wie bildender Kunst, Musik, Mode und Film hat der Choreograf einen außergewöhnlichen Blick für effektvolle Inszenierungen entwickelt, der sich hier in prägnanten, starken Bildern niederschlägt.
Auch Fouad Boussouf versucht mit seiner Kreation „Vïa“ für das Ballet du Grand Théâtre de Genève einen universellen Ansatz, indem er den Rhythmus zur bestimmenden Kraft des Ensembles macht. Mit wechselnden Kostümen spielt auch er auf den Prozess der Metamorphose an. Doch nichts davon wird letztlich eingelöst.
Die in Kutten gekleideten Tänzer*innen muten archaisch an, wenn sie repetitiv und insistierend zum pulsierenden Beat der Musik von Gabriel Majou (mehr oder minder) unisono kleine Schritte und Hüpfer machen. Mit Linien- und Kreisformationen evozieren sie Volkstanztraditionen. Bald reißt der eine oder andere aus, um sich in weit ausholenden Armbewegungen abzusetzen. Der repetitive Bewegungsansatz wird verlassen und durch beliebige Moves ersetzt.
Die knallroten Kostüme vor dem blitzblauen Hintergrund eröffnen eine ästhetische Zumutung in Primärfarben von rot, über blau und gelb. Für den zweiten Teil schälen sich die TänzerInnen aus den roten Kaftans und kommen in blauen Hosenanzügen heraus. Der dritte Teil wird in gelben Trikots getanzt. Der Hintergrundprospekt wechselt ebenfalls zwischen in diesen Farben. (Bühnenbild: Ugo Rondinone, Kostüme: Gwladys Duthil).
Nichts von der anfänglichen Stringenz des rhythmischen Groove hat sich aufrechterhalten können, auch wenn das Motiv am Ende wiederkehrt. Das Material ging nicht auf. Es entglitt. Es zerbröckelte und zerbröselte. Die Choreografie wirkt zunehmend improvisiert, die Bewegungen trivial und uninspiriert. Als hätte Boussouf sein eigenes Vorhaben aufgegeben und den weiteren Weg nicht mehr unter Kontrolle gebracht.
Ein Bild der Unentschlossenheit auch dann, wenn sich die Tänzer*innen zwischen den drei Teilen im Halbdunkel enthäuten. Mühsam entledigen sie sich der oberen Schicht, legen die abgelegten Kleider jeweils am vorderen und hinteren Bühnenrand in Häufchen ab. Und waren die Abweichungen in den Bewegungen der Unisono-Gruppe beabsichtigt oder einfach schlecht geprobt?
Der Prozess der „Transformation“, den der Choreograf in einem Interview anspricht, wird zu einem banalen Tänzchen.
Ballet du Grand Théâtre de Genève mit „Skid“ (Ch: Damien Jalet) und „Vïa“ (Ch: Fouad Boussouf) am 15. Dezember 2023 im Festspielhaus St. Pölten.