Mit „Der Steppenwolf“ nach dem gleichnamigen Roman von Hermann Hesse schreibt Ballettchef Goyo Montero mit seinem Staatstheater Nürnberg Ballett einmal mehr thematisch fokussiert Ballettgeschichte.Auf wahnsinnige, mitunter aufgrund von Drogen und Halluzinationen irre Art und Weise feiert die innere Zerrissenheit eines Menschen, der in einer Seelenkrise feststeckt, hier fröhliche Urständ.
Im Kanon der deutschen Literatur handelt es sich bei Hermann Hesses Roman „Der Steppenwolf“ um einen Stoff, der sich – je nach Alter und Erfahrung – jedem Leser individuell anders erschließen mag. Daraus ein Tanzstück zu zaubern, das zudem hält, was Titel und Inhalt versprechen, erscheint kaum möglich. Goyo Monteros gleichnamige Uraufführung geht aber sogar noch darüber hinaus.
Geschildert werden in der 1927 veröffentlichten und an sich recht handlungsarmen Geschichte die Erlebnisse des Harry Haller: eine Hauptfigur, die sich selbst als höchst gespaltene Persönlichkeit empfindet, die die extrem unterschiedlichen Pole ihrer Persönlichkeit – einerseits den gesellschaftliche Werte, Goethe und Mozart schätzenden Bürger, andererseits das künstlerisch-kreative bzw. wild-animalische eines einzelgängerischen Steppenwolfs – jedoch nicht unter einen Hut zu bringen vermag. Dass Montero die große, sich in einer einzigen Person austobende emotionale Divergenz gerade nicht in den Mittelpunkt seiner choreografischen Romanadaption stellt, erweist sich als schlüssig und ist sehr gut.
Auf seinem Weg hin zu einer optimistischeren Selbsterkenntnis stürzt sich Hesses Harry Haller in ein beinahe höllisches Durcheinander aus Lebensüberdruss und neu aufblühender Freude am Lieben und Sein. Er macht Bekanntschaften, wohnt Konzerten bei, verliert sich in rauschhaften Maskenbällen und zuletzt mit vermeintlich mörderischem Ausgang hinter verschiedenen Türen eines unheimlichen magischen Theaters. Der Hinweis „Nur für Verrückte – Eintritt kostet den Verstand“ hat durchaus Methode. Im Verlauf eines kurios-kruden „Verwandle-Dich-in-Dich-Selbst“-Trips werden am Ende Wahrheit und Illusion, Wünsche und Ängste gegeneinander ausgespielt. Beim Aufdröseln dessen, was da an Unmöglichem passiert, bleibt sich der Leser weitgehend selbst überlassen.
Montero dagegen bezieht das Theaterpublikum in seiner Tanzfassung – insbesondere zum Schluss – in die sogenannte „Hinrichtung Harrys“ mit ein. Der des Mordes an einem Mädchen im Spiegelkabinett angeklagte Darsteller wird live gefilmt. Ewiges Leben oder einmaliges Auslachen? – Über die angemessene Strafe soll auch das ebenfalls von der Kamera eingefangene Publikum entscheiden. Einige der Tänzerinnen und Tänzer haben sich ins Parketts geschlichen. Sie tummeln sich auf freigelassenen Sitzen und versuchen die Leute um sich herum durch Zuflüsterungen zu beeinflussen, genau wie ihre von der Bühne in den Zuschauerraum brüllenden, sich uneinigen Kolleginnen und Kollegen.
Nach 80 Minuten kulminiert die Uraufführung im Nürnberger Opernhaus in einem kollektiven, herzlich-brutalen Lachen. Zwar wurde den Zuschauern deutlich signalisiert, mit einzustimmen, wirklich trauen sich das aber nur wenige. Also lachen sich Monteros Tänzer über Harry Haller und uns – ihr Publikum im Saal – schier kaputt. Das ist erschreckend und großartig zugleich. Ganz plötzlich schlägt die Stimmung um. Ernst verdüstert die Gesichter. Das Licht erlischt.
Um sein Figurenarsenal vorzustellen, benötigt Goyo Montero zu Beginn seines neuen Stücks nur wenige Minuten. Da ist zuerst diese superflexible, spinnenartig auftretende Tänzerin im hautengen dunklen Trikot mit ihrem getönt-verspiegelten Helmvisier. Ihr folgen Tänzerinnen und Tänzer in schwarzen Hosen und grauen Muskelshirts, akrobatisch agierende Doppelgeschöpfe unter weiten grauen Mänteln sowie eine ganze Menagerie von nur halb menschlichen Wesen, die tierische Masken – aus feinmaschigem schwarzen Draht – tragen. Dazwischen flitzt auf allen Vieren ein Tänzer mit großartig realistischem Wolfskopf umher. Über seinem Rücken flattert ein heller Pelz. Er beißt das vor ihm davonrennende Huhn. So schnell wie er begonnen hat, ist der rasante Spuck dieses einleitenden Panoptikums auch schon vorbei. Und die Zuschauer stecken – von diesen ersten Eindrücken regelrecht überrumpelt – bereits mittendrin in einer höchst aufregenden Tanzadaption von Hesses „Der Steppenwolf“.
Alle Gestalten sind urplötzlich nach einem beeindruckend spontan wirkenden System aufgetreten und schnell wieder durch die verschiedenen Türen einer metallenen Wand verschwunden, deren t-förmige mobile Einheiten bald ebenfalls ein seltsames Eigenleben entwickeln. Je nach Ausrichtung sieht man auf angeschmutzte rotgepolsterte oder verspiegelte Wandsegmente, die teils auch in der Vertikale bespielt werden. Von für das Publikum meist nicht sichtbaren Tänzern bewegt, verändern diese zugleich mit ihrer Position auch die Atmosphäre und den gesamten Bühnenraum. Allein schon was Nürnbergs Ballettchef choreografisch mit diesen Ausstattungselementen alles anstellt, lohnt den Besuch seiner pausenlosen Neuproduktion.
Die Tänzer purzeln durch die geheimnisvollen Türen und arbeiten sich in einer Diagonale des Fallens mit einem Rosenstrauß als Requisit über den überbauten Orchestergraben zur ersten Reihe vor. Sie nehmen – wie zuvor die insektenhaft forsche Tänzerin mit der gesichtslos-glatten Maske – direkten Kontakt zum Auditorium auf. Eine der Rosen bekommt ein Zuschauer überreicht. Dann wandert der Strauß so lange von Hand zu Hand, bis sich ein in der Reihe kniender Tänzer, der später wiederholt die im Programmzettel namentlich gar nicht ausgewiesene Rolle des Harry Haller übernimmt, intensiver als alle anderen in die dunkelroten Blüten verbeißt und schließlich eine Menge davon verschlingt. Eine blutige Tiermahlzeit?
Mit einer unglaublichen Detailversessenheit hat sich Goyo Montero – einmal mehr in seiner nunmehr 15-jährigen Karriere als Nürnbergs herausragend innovativer Chefchoreograf – auf neues Terrain vorgewagt und mit seinem fantastischen Ensemble eine famos ideenreiche Tanztheater-Show in multimedialer High-End-Qualität auf die Bühne gebracht. Hesses in den Roman eingebautes Gedicht über den Steppenwolf mutiert zum Song – komponiert von Monteros kongenialem musikalischen Partner Owen Belton. Die Strophen singt ein Tänzer beherzt live auf der Bühne mit. Doch dieses Lied ist bei weitem nicht der einzige originelle Bestandteil des eigens für Monteros „Steppenwolf“ von dem Kanadier Belton neu komponierten Soundtracks. Man hört schöne orchestrale Passagen heraus, kurze jazzige Anklänge, knarzige Geräusche, Stimmen, klangliche Verfremdungen, wiederholtes Knurren und zu einem rabiaten Männertrio ein Peitschen, wie es auch Hermann Hesse in einer seiner Buchszenen beschreibt.
Die enge Verknüpfung mit Hesses Romanvorlage gelingt Montero allerdings nicht etwa durch ein tänzerisches Nachbeten der insgesamt wenigen hierzu überhaupt geeigneten Szenen. Dazu ist Montero ein viel zu kluger und eigenwilliger Theatervisionär. Statt in die Falle bloßen Nacherzählens zu tappen, hat er sich für ein eigenes Libretto aus lauter Originalzitaten entschieden, die er seine Darsteller mal solistisch, mal chorisch live sprechen lässt.
Dass die Sätze des deutschen Literaturnobelpreisträgers Hesse auf Englisch erklingen, darf ruhig irritieren – auch wenn das Mitlesen der Übersetzung auf zwei Bildschirmen links und rechts vom Bühnenportal ablenken und anstrengend sein mag. Was die international aufgestellte Ballettkompanie in dieser Inszenierungskombi aus Tanz, Schauspiel, Musik, Sound und Video über die komplexen rein choreografischen Herausforderungen hinaus leistet, ist beachtlich genug. Die englische Sprache spielt Montero zudem dort in die Hände, wo er Bühnenmagie und Erlebnis „Theater“ per se als Zusammenarbeit zwischen Künstlern und Publikum zu einem weiteren Gegenstand seines Stücks werden lässt.
Tatsächlich hat Montero seinen „Steppenwolf“ erstaunlich vorlagengetreu konzipiert, obwohl er – was zu erwarten war – auch sehr eigene Akzente setzt. Hesses „Steppenwolf“ den Aktionskünstler Joseph Beuys als zweite wichtige Inspirationsquelle für die optische Dimension, die materielle Haptik und das wesenhaft Ungezügelte seiner Fassung konsequent zur Seite zu stellen, zählt zweifelsohne dazu. Monteros Beschäftigung mit Beuys verdankt das Ensemble bildgewaltige Auftritte mit Äxten, die gefährlich durch die Luft sausen. Seinen „Steppenwolf“ hat Montero außerdem um ein, wie er im Programmheft schreibt, „neues Herzstück“ und Beuys Aktion „Der anonyme Zuschauer“ ergänzt.
Außergewöhnlich ist, dass trotz der enormen Fülle an formalen Bestandteilen, inhaltlichen Verweisen und bewusst verstörenden Aktionen nichts je ins dramaturgisch Leere läuft. Stets verbinden sich Set, Kostüme, Ton, Choreografie und Worte – ob rezitiert oder auf einen Hänger im Hintergrund projiziert – zu einem Amalgam, das bildstark, effektvoll oder inhaltlich unmittelbar verständlich enorme Wirkung entfaltet. Die von Anfang an geschickt neu eingeführte Beuys-Figur „Der anonyme Zuschauer“ entwickelt sich vom stumm vermummten Schildträger in einem Solo zum schillernden Star des Abends, der Harry Haller teuflisch gut auf seiner Suche nach dem richtigen Ich den Weg in sein verrücktes magisches Theater weist. Eine tolle Abschiedsrolle für Victor Ketelslegers, der seit Kurzem in Göteborg tanzt.
Staatstheater Nürnberg Ballett: „Der Steppenwolf“, Premiere am 16. Dezember 2023 im Staatstheater Nürnberg. Weitere Vorstellungen: 25. Dezember 2023; 7., 12. 14., 19., 21. 23. Jänner; 2. und 17. Februar 2024