Zeitgenössische Zirkuskunst ist es, die seit Jahren im Rahmen des Festivals „Cirque Noël“ beispielhaft aufzeigt, welch Bandbreite darstellende Kunst zu bieten hat; und, welch großes künstlerisches Spektrum in diesem eigenständigen Genre, dem ‚Cirque Nouveau‘ selbst steckt, sich im Laufe der Jahrzehnte seines Bestehens entwickelt hat. So steht der Cirque Le Roux heuer für die spartenübergreifende Kreativität vielseitiger Ausnahme-Artisten.
Die 2014 gegründete, französische Zirkustruppe Cirque Le Roux, die weltweit tourt und mit zahlreichen renommierten Preisen ausgezeichnet wurde, stellt mit ihren zwei in Graz nun präsentierten Produktionen einen Höhepunkt an kreativ künstlerisch-akrobatisch Neuem dar. Sie verbindet (und das ist vielleicht der Grund ihrer Namensgebung Le Roux, deutsch bzw. österrreichisch ‚die Einbrenn‘, also das, was bindet) in ‚erster Linie‘ Zirkus und Filmkunst und bezeichnet ihre Art der Körperkunst-Darbietung auch als „ciné-cirque". Fein abgemischt mit Theatralem, mit Showkunst und Slapstick, mit Komödianten-Kunst, Tanz und Körpertheater. Das ergibt, ja, ein überaus dichtes, ein intensives, weil auch emotional durchaus immer wieder kurz in die Tiefe gehendes Programm.
Wobei es nicht unbedingt der jeweilige, den Rahmen abgebende Plot ist, der fesselt und überzeugt. Es sind in inhaltlicher Hinsicht vielmehr Einzelszenen, die Allgemeingültiges kritisch andeuten, hinterfragen und humorvoll übertreibend und schrill überzeichnend zum Lachen bringen.
Und „formal“ – formal ist es eine atemberaubende Spitzenakrobatik, die so manches Mal nicht glauben lässt, was da zu sehen ist und einfach nur staunen macht. All dies eingebettet in eine punktgenaue, immer wieder überraschende und faszinierende, originell minutiös durchdachte Inszenierung, die in weiten Teilen als Choreographie akrobatischen Bewegungsflusses bezeichnet werden kann und für die in beiden Werken Charlotte Saliou verantwortlich zeichnet.
„The Elephant in the Room“ ist eine turbulente Beziehungsgeschichte, die in der Art des Hollywood-Noir-Films der späteren 30er Jahre und der damit verbundenen Schwarz-Weiß Zeichnung atmosphärisch bezaubernd unterhält. Die komödiantisch schrägen Retroszenen der filmisch aufgeblätterten Geschichte, geprägt von scharfen, dynamischen Schnitten und gezeichnet in dunklen wie schrillen Farben, sind ein optisches Vergnügen für sich. Ergänzt durch das, was sich immer deutlicher an breitem darstellerischen Können der sechs Spitzen Artist*innen Lolita Costet, Tuk Frederiksen, Craig Gadd, Naël Jammal. Kritonas Anastasopoulos und Antonio Terrones zeigt. Getoppt nur noch durch das, was eben diese peu à peu in ihren Hauptkompetenzen auf die Bühne zaubern: in ihrer Bodenakrobatik, in dem nahezu unbegreiflichen Zusammenspiel von Balance, Kraft, Vertrauen, Teamarbeit und Körperbeherrschung im Banquine, in den einarmigen Hand-to-Handstands, die in solchen auf dem Kopf gipfeln. Und in dem, was sie geradezu schwerelos als abschließenden Höhepunkt auf dem chinesischen Mast entfalten. Immer wieder in amüsanter Anspielung auf die Exzentrik, den Glamour, die Dekadenz der Hautevolee dieser Epoche.
„A Deer in the Headlights“, der Titel der zweiten Produktion beim Cirque Noël ist nicht ganz nachvollziehbar, auch wenn man ihn auf eine kleine Szene des plötzlichen Verharrens aller, einer Schrecksekunde des Erstarrens im Fluss der Bewegung gesehen haben mag. Großes Vergnügen bereitet hingegen der hier immer wieder auftauchende „Erzähler“ und Kommentator des Geschehens – „Mein Name ist James Brown“ – gleichzeitig der Protagonist der (allerdings nicht immer erkennbaren) Handlung, der sich über ein ‚richtiges‘ Leben, also eines, das sich seiner Meinung nach im genussvollen Staunen und Genießen vorbehaltlos dem Sein widmen sollte, Gedanken macht: Schließlich weiß er“ …in 24 Stunden werde ich tot sein.“
Wiederum sind es einzelne, in sich formal und inhaltlich relativ abgeschlossene Szenen, die in ihrer jeweiligen Aussage zu Variationen des Zwischenmenschlichen griffig sind und berühren. Dazu zählt herausragend die der zögerlich überraschten Annäherung zweier Männer mit dem Ausdrucksmittel der Bodenakrobatik respektive ihrer Beine und Füße, die in ihrer feinfühligen (akrobatischen) Zärtlichkeit kaum Vergleichbares kennen dürften.
Außergewöhnlich und von höchstem akrobatischen Niveau: die kopfüber an der Decke hängend agierenden Männer in einer Art Luftakrobatik Szene, bei der mehr als einmal der Atem stockt.
Das, was neben den zu erlebenden, geradezu unfassbaren Möglichkeiten der Akrobatik dieser hier agierenden 6 Ausnahme-Artisten: Andrei Anissimov, Coline Mazurek, Yannik Thomas, Gregory Arsenal, Mathilde Jimenez und Philipp Rosenberg zusätzlich besonders besticht, ist ihre außergewöhnliche Ensembleleistung, die auf gleich hohem Niveau wie ihre jeweiligen solistischen Auftritte einzuordnen ist.
Insgesamt ist die Produktion angelehnt an das, was die französische New Wave einerseits und das Independent Kino der 70er Jahre ausmacht. Überaus stimmig die variationsreich eingesetzte Musik (Alexandra Streliski) sowie das (auch) im wahrsten Sinne des Wortes traumhaft schöne Lichtdesign Pierre Bernerons.
Selten erhebt sich beim Abschlussapplaus das Publikum in derart kurzer Zeit, steht es nahezu im gesamten Zuschauerraum.
Cirque Noël 2023/24, 21. Dezember 2023 bis 7.Jänner 2024 im Orpheum Graz.
Cirque Le Roux: “The Elephant in the Room” am 21. Dezember 2023 und “A Deer in the Headlights” am 3. Jänner 2024.