Bei der New Yorker Uraufführung war Leonard Bernsteins „Candide” lediglich ein mäßiger Erfolg beschert. Die Wiener Inszenierung der Operette wird hingegen seit ihrer Premiere am 17. Jänner begeistert bejubelt. Der Radiosender BR Klassik zeichnete sie sogleich mit dem Operetten-Frosch aus. Tatsächlich hat das Team um Regisseurin Lydia Steier der musikalischen Satire einen grellen Look verpasst, der Candides absurde Abenteuer lustvoll überhöht, während Maren Alsop mit dem RSO Wien für musikalischen Furor sorgt.
Um Leibniz‘ philosophische Lehre, dass wir in der „besten aller möglichen Welten“ leben, zu konterkarieren, hat Voltaire in seinem Roman „Candide, ou l’optimism“ (1759) einen gutgläubigen Antihelden erfunden, und ihn um die Welt geschickt, um das Gegenteil zu erfahren. Auf einer Reise, bei der er in Naturkatastrophen, religiöse Hinrichtungen, Kriege und in die Abgründe menschlicher Umtriebe stolpert, lernt er schließlich, dass es im Bösen keinen höheren Sinn gibt.
Alle Begebenheiten in Voltaires Roman beruhen auf Tatsachen wie das verheerende Erdbeben von Lissabon 1755, die Inquisition der katholischen Kirche oder die Verbreitung von Syphilis. Stoff genug, um Leibniz‘ Ansatz satirisch in Frage zu stellen.
Preußens militärischer Überfall auf Schlesien 1740 wird hier zu einem Angriff der bulgarischen Armee auf Westfalen, bei dem die Familienmitglieder des Geschlechts Thunder-ten-Trock getötet werden. Im Laufe des Abends stellt sich heraus, dass sie doch überlebt und nun andere Identitäten angenommen haben. Nur die von Candide angebetete Cunegonde bleibt sie selbst, obgleich sie von der verwöhnten Baronesse zur Pariser Kurtisane mutiert.
Die amerikanische Schriftstellerin Lillian Hellman und der Komponist Leonard Bernstein haben diesen Abgesang an den Optimismus 1956 im Licht der ebenso widersinnigen Hatz gegen angebliche Kommunisten des Senators Joseph McCarthy und des „Komitees für unamerikanische Umtriebe“ im Kongress in eine Operette verpackt. Nur 76 Aufführungen gab es davon, ein Jahr später kam "West Side Story" zur Uraufführung und brachte es allein am Broadway zu 732 Vorstellungen.
Um dem komplizierten und verwirrenden Plot Herr zu werden, wird das Publikum von einem Erzähler durch die irrwitzige Geschichte über den naiven Candide, der nur das Beste will und doch aus Liebe zu Cunegonde zum Mörder wird, geleitet. Er erklärt, warum Candide von Westfalen über Paris nach Buenos Aires und schließlich nach Venedig kommt.
Die Produktion des Theaters an der Wien taucht lustvoll in dieses groteske Sammelsurium ein und vereint die Nummernrevue in einem schrillen ästhetischen Guss. Die Inszenierung von Lydia Steier setzt ganz auf eine optische Reizüberflutung mit bunten, glitzernden Kostümen von Ursula Kudrna und der Ausstattung von Momme Hinrichs: ein Theater im Theater mit mehreren Bühnen auf verschiedenen Ebenen, um schnell von einem Handlungsstrang in den nächsten zu wechseln. Gleichzeitig ist das Geschehen streng durchchoreografiert, es herrscht Ordnung im Chaos. Da tanzen die Toreros in glänzend-pinken Shorts, rocken die Inquisitoren-Kardinäle in ihren roten Roben, treiben die Machthaber dieser Welt in Schwimmreifen auf rauer See.
Damit trägt die Inszenierung auch der Diskrepanz zwischen Musik und Text Rechnung, bei der Bernstein seinen harmonischen, musikalische Bogen entlang von Texten (aus der Feder unterschiedlicher Autor*innen) voller Zynismus und moralischer Verkommenheit spannt.
Sechs bis sieben Wochen hatte man in Wien Zeit, dieses Werk in Szene zu setzen, erzählt der Dance Captain und Tänzer Jamie Winback, ein Landsmann der australischen Choreografin Tabatha McFadyen. Auch wenn sie mit einem Cast von acht SolistInnen, zwölf Tänzern, dem Schönberg-Chor und dem RSO-Orchester eine Show mit Broadway-Ausmaßen zu bewegen hatten. Den Erfolg der Produktion schreibt er dem kreativen Einverständnis des Leading Teams zu. Zwischen Lydia Steier und MyFadyen flogen die Ideen wie Ping-Pong-Bälle hin und her, ein Spiel, das Ursula Kudrna mit Kostümvorschlägen konterte. Auch zwischen dem Dance Captain und der Choreografin gab es diesen dynamischen Austausch.
Dabei setzte man bei der Wiener Inszenierung auf eine Durchmischung, bei der man auf den ersten Blick Tänzer und Sänger*innen nicht unterscheiden konnte. Man hatte Tänzer engagiert, die zwar technisch versiert waren, aber keine gestylten Tänzerkörper hatten. Und so mischten sie sich unbekümmert unter den Chor, in dem in fröhlicher „Genderfluidity“ männliche und weibliche Rollenzuschreibungen wechselten.
Man wollte eben die Gesellschaft auf der Bühne abbilden, meint Winback, der als Direktor des australischen Youth Dance Festival auch breite Erfahrungen außerhalb der Theaterwelt gemacht hat. Seine Zielsetzung ist es, möglichst viele junge Menschen für den Tanz zu begeistern, ganz unabhängig davon, ob sie damit berufliche Ambitionen verfolgen.
Dass Tanzen aber auch im Alter beflügelt, hat ihm in der Wiener “Candide”-Produktion die „Old Lady“ Helene Schneidermann bestätigt, die die Bewegung besonders genoss.
Maren Alsop navigiert das Radiosymphonieorchster (RSO) souverän durch die Klangwelten eines Musiktheaters zwischen Musical, Operette und Opéra comique in einem Reigen aus Musical-Sound, Koluraturen und lyrischen Arien. Insgesamt glänzen jedoch alle Beteiligten in dieser Produktion: Die Gesangssolist*innen, allen voran Mattew Newlin als Candide, Nikola Hillebrand als Cunegonde und Ben McAteer als Dr. Pangloss (später: Martin) sowie der spielfreudige Schönberg-Chor und die frech-fröhlichen Tänzer.
Die neun Vorstellungen waren freilich gleich ausverkauft, also bleibt nur zu hoffen, dass dieses wunderbare Theatervergnügen in der nächsten Saison wieder auf dem Spielplan des Theaters an der Wien stehen wird.
Theater an der Wien: „Candide“, gesehene Aufführung am 28. Jänner im Museumsquartier, Halle E. Weitere Vorstellungen am 1. und 3. Februar.