Sie rief die Zaar-Geister und lässt sie in fünf Körpern tanzen. Die iranisch-österreichische Choreografin Ulduz Ahmadzadeh dringt mit der Premiere ihrer jüngsten im Rahmen des PARASOL-Programmes des TQW entstandenen Arbeit tänzerisch ein in einen uralten iranisch-arabischen Kult um Besessenheit und Heilung. Mit seiner Szenografie stellt Till Jasper Krappmann „ZĀĀR“ in eine Landschaft zwischen Bergen und Meer. Die Tänzerinnen Helena Araújo, Elda Gallo, Yoh Morishita, Jennie-love Navoret und Viltė Švarplytė tanzen in Fantasie-Kostümen aus original iranischen Stoffen.
Das 2022 im Tanzquartier Wien eingeführte Programm PARASOL ermöglicht fünf jungen TänzerInnen/PerformerInnen in einer Saison mit zwei arrivierten ChoreografInnen je drei Monate lang eine (Tanz-) Performance zu erarbeiten und sie in der Halle G des Wiener Museumsquartiers zu zeigen. Im Rahmen ihrer Forschungsarbeit beschäftigte sich Ulduz Ahmadzadeh, Choreografin, Tänzerin, Forscherin und künstlerische Co-Leiterin der von ihr gemeinsam mit Till Jasper Krappmann gegründeten ATASH عطش contemporary dance company in „Zaar“ mit Bewegungsmaterial des westasiatischen Kulturerbes von der persisch-arabischen Golfregion bis nach Nordostafrika und Südarabien. Die Tänze aus verschiedenen Regionen des Iran, aus Afghanistan, dem Sudan, Kurdistan, Irak und Indien stellten für die fünf Tänzerinnen mit dem für sie unbekannten Material eine Herausforderung dar, die sie jedoch souverän meistern.
Der Wind trägt die Zaar-Geister zu uns, sie dringen durch Mund und Nase in uns ein und verursachen diverse physische und psychische Leiden, die sich in verschiedenen Rhythmen und Gesängen manifestieren, anhand derer sie von HeilerInnen identifiziert und mit Zeremonien und Trance-Techniken geheilt werden können. So der Zaar-Kult.
Sie stampfen, sie schlagen sich mit der flachen Hand auf die Brust, und zitieren damit eine mächtige persische Trauer-Geste, die auch heute noch insbesondere bei schiitisch-islamischen Feiertagen, an denen der Tod Mohammeds und der seiner Nachfolger betrauert wird, in großen Menschenmengen zelebriert wird. Kämpferische Gesten, rituelle Tänze, gegenseitiges Pushen mit „He!“, dynamisch wechselnde Synchronizitäten, Soli und Gruppentänze, die langen Haare werden oft geschleudert, Drehungen, wuchtige Sprünge und Beugungen der Körper, Tanz mit Stäben, Hüpfen, markante Bewegungen wie das Kreisen der erhobenen Hände oder das rhythmische Vorbeugen des Oberkörpers.
Sie achten aufeinander, beobachten sich. Sie tanzen Kraft, Freude, Trauer, Hoffnung und Gemeinschaft in einer komplexen, anspruchsvollen Choreografie. Das aufwändige Lichtdesign von Benjamin Maier ist wie eine Reise durch Orte und Stimmungen, der Sound von Paul Kotal und Han-Gyeol Lie treibt mit Rhythmen und harmonischen bis dissonanten Passagen durch die Emotionen. Über die Trance in die Transformation.
Die Poesie dieser Tänze wächst neben ihrer für Mitteleuropäer fremdartigen Anmutung – Ulduz Ahmadzadeh bewegt sich in ihren Arbeiten konsequent jenseits westlicher Ästhetik – aus einer komplexen Metaphorik, deren Bildsprache um die Götzen auch unseres Lebens kreist. Die sichtbaren Geister und Götter Geld, Macht, Gewalt, Ruhm und Geltung werden getrieben von weit wirkungsmächtigeren, fundamentalen, weltweit und allzeit unsichtbaren. Ihnen, jenen Schatten in uns, gelten die heilenden Rituale. Und der Verweis auf diese mit anderen, ewig wiederholten Ritualen in den Menschen eingepflanzten transparenten Übel führt zu den Wurzeln aller individuellen und damit gesellschaftlichen Leiden.
„Zaar“ ist von globaler Relevanz. Neben der Besessenheit politischer Führungsriegen und/oder wirtschaftlich Mächtiger muss vor allem jede(r) Einzelne, auch hier und jetzt, sich hinterfragen und die anderswo so leicht zu identifizierende Entfremdung als seine/ihre eigene erkennen. Die Universalität und Dringlichkeit des Themas ist geradezu verstörend.
Archaische Bräuche aus fernen Ländern, fremden Kulturen und vergangenen Zeiten erscheinen interessant, doch irrelevant. Die psychologische und gesellschaftspolitische Dimension dieses Stückes ist nicht zu überschätzen. Es spiegelt Zustände in allen Ebenen aller Länder dieser Welt. Freiheit beginnt mit der Emanzipation von vornehmlich unbewussten Glaubenssystemen. Letztlich würden damit Ausgrenzung, Diskriminierung, Unterdrückung und Diktatur unnötig und unmöglich. Die fünf jungen Frauen unterschiedlicher Herkunft tanzen einen großen Traum.
Diese Arbeit ist eine vor allem auch angesichts des Rahmens aufwändige Produktion, die einerseits von der Wertschätzung der Choreografin gegenüber den fünf Tänzerinnen erzählt und andererseits als vollwertiges, abendfüllendes Stück bereit ist fürs Touren. Wie ihre ebenfalls mit dem Tanzquartier Wien koproduzierte Trilogie „Under Cover“, „Force Majeure“ und „TARAB“, die international gezeigt wird. Auch anderswo werden der Tanz, die Kraft und die Menschlichkeit des Stückes faszinieren, bewegen, berühren und begeistern.
Eine traurige Gewissheit treibt die fünf am Ende vor das Publikum. Sie stehen, schauen ernst und mahnend. Besessen sind wir alle irgendwie und oft von gleichen (Un-) Geistern. Sind wir uns dessen bewusst? Ist es der Menschheit, dem Menschen möglich, sich zu heilen? Sind wir überhaupt bereit für die dafür notwendigen Opfergaben?
Ulduz Ahmadzadeh mit „ZĀĀR“ im Rahmen von PARASOL am 05. April 2024 im Tanzquartier Wien.