„Les Sylphides“ von Michel Fokine war das Werk, das Anfang des letzten Jahrhunderts das Ballet blanc aus dem Zusammenhang einer Geschichte schälte und damit die Brücke zum Symphonischen Ballett der Neoklassik schlug. Nun ist das tanzhistorisch bedeutende Ballett also wieder im Repertoire des Wiener Staatsballetts, zusammen mit einem Meisterwerk der Gattung: Uwe Scholz‘ „Jeunehomme“. Ein Abend, der die Kluft der „Zeitgeister“ offen legt.
Die ätherischen Wesen der Romantik, die Sylphiden, entstammen zwar der männlichen Fantasie und beflügeln sie, doch das bleibt ohne Konsequenzen. Der Träumer begegnet ihnen ohne dass er vor einer böswilligen Geisterchefin gerettet werden muss wie in „Giselle“ oder einem der verzauberten Wesen völlig verfällt wie in „Schwanensee“. Weder trifft er wie in „La Bayadère“ die Liebe seines Lebens im Jenseits wieder noch opfert er wie in „La Sylphide“ dem Geisterwesen seine bevorstehende Ehe.
Doch wie soll man heute das Werk inszenieren, das ohne narrative Klammer auskommt und doch ganz der Ästhetik des romantischen Balletts verpflichtet ist?
Beim Wiener Staatsballett optierte man für neue Akzente bei der Ausstattung und bei der Musik. Doch hat man dabei die richtige Wahl getroffen?
Darko Petrovic setzte auf diskrete Veränderungen, schuf die Kostüme in Anlehnung an die Original-Tutus mit angedeuteten Flügeln am Rücken. Seine Raum- sowie die Lichtgestaltung von Alex Brod evozieren die Abendstimmung, verwischen aber im schattig gehaltenen Ton auch die feinen Konturen der romantischen Posen. Die den Träumer (Masayu Kimoto) umschwirrenden Solistinnen werden von Ioanna Avraam, Elena Bottaro und Olga Esina astrein getanzt, doch die Präzision, auf die diese Hommage an das romantisch Ballett baut, wird vom Ensemble mehrmals verfehlt.
Michel Fokine hat für „Les Sylphides“ Musik verwendet, die nicht für Tanz komponiert wurde, nämlich Klavierstücke von Frédéric Chopin, orchestriert von Alexander Glasunow. Diese und nachfolgende Bearbeitung bleiben umstritten. So bezeichnete der einflussreiche deutsche Tanzkritiker Horst Koegler Fokines Werk als „musikalische Ursünde des modernen Balletts“.
In Wien optierte man nicht für die Originalfassung, sondern für die in den 1940er Jahren entstandene Version von Benjamin Britten. Koeglers Ansicht bleibt auch hier gültig. Da klingen süßliche Melodien wie Schrammelmusik, tönen Bläser schrill aus dem Orchestergraben, werden Tempi kitschig in die Länge gezogen. Insgesamt wird „Les Sylphides“ bei dieser Wiederaufnahme zu einem historischen Zeugnis, das heute keine Relevanz mehr hat.
Adi Hanans „Eden“
Apropos Ursünde. Damit beschäftigte sich Adi Hanan in ihrer ersten größeren Choreografie. Nach ihrem Debut im Rahmen der „Plattform Choreografie“ im Dezember 2022 (tanz.at berichtete), wurde die Staatballett-Tänzerin von Direktor Martin Schläpfer damit beauftragt.
Hanan bezieht sich laut eigenen Angaben auf die Geschichte von Adam und Eva und das Konzept vom Paradies. Orte des Geschehens wie der Garten Eden oder himmlische Sphären werden in einer Installation von Michael Seibert, die über den Köpfen der Tänzer*innen hängt angedeutet.
Im ersten Teil zu Schuberts Streichquartett „Der Tod und das Mädchen“ erforschen je eine Gruppe von vier Männern und vier Frauen in dynamischen Tanzszenen Beziehungen (wobei durch den Einschluss von jeweils einem Mitglied des anderen Geschlechts Genderneutralität angesprochen wird). Das Bewegungsmaterial beruht auf raschen Wechseln der Ebenen auf der Basis von fluiden Bodensequenzen. Offenbar hat sich Adi Hanan hier einiges von ihrem israelischen Landsmann Hofesh Shechter abgeschaut. Doch Hanan gestaltet die Aneinanderreihung dieser Elemente in einer braven Ordnung, da fehlt es (noch?) an spritzigen Verschränkungen.
Hinter der Gruppe sind zwei Tänzer*innen auszumachen, die sich, eingehüllt in einen weißen Kokon, bewegen. Schließlich werden sie vom „Wächter des Gartens“ (Yuko Kato) aus dem Stoff geschält. Zu „Spiegel im Spiegel“ von Arvo Pärt tanzen Claudine Schoch und Marcos Menha einen Pas de deux, Anne Harvey-Nagl spielt die Violine, Chie Ishimoto Klavier. Alles wunderbar! – Wären da nicht die grauenhaften Kostüme, nämlich weiße Baumwollunterhemden und beige Bermudas des Tanzpaares, die den ästhetischen Genuss erheblich abschwächen. Schade!
Uwe Scholz: „Jeunehomme“
Rundherum überzeugend war hingegen das letzte Stück des Abends: „Jeunehomme“ von Uwe Scholz zu Mozarts 9. Klavierkonzert. Schlichtweg beglückend, wie das Orchester unter der Leitung von Ido Arad und das Ensemble des Wiener Staatsballetts die Musik interpretieren und verkörpern, wie die Musik durch die Tänzerkörper zu gleiten scheint, ja sie in Bewegung setzt und sich darin fortsetzt. Wie der Pianist Johannes Piirto und die Solist*innen Davide Dato, Ioanna Avraam und Marcos Menha, Kyoka Hashimoto und Alexey Popov die perlenden Skalen und Akkorde in den Raum projizieren.
Wie die frohgemute Leichtigkeit des ersten in die feierliche Serenität des zweiten Satzes übergeht um im dritten Satz vor Lebendigkeit und Temperament förmlich zu bersten. Giovanni di Palma hat das Stück des viel zu früh verstorbenen deutschen Choreografen (1958-2004) in Wien mit großer Sorgfalt einstudiert. Die rekonstruierten Kostüme von Karl Lagerfeld (Catherine Voeffreay) – Trikots mit Anspielungen an Klaviertastaturen im Design – unterstützen die zeitlose Tanzästhetik dieses Meisterwerkes.
Wiener Staatsballett: “Les Sylphides”, Premiere am 8. Mai 2024 an der Volksoper Wien. Weitere Aufführungen am 11., 13., 17., 22., 26., 30. Mai