Als Auftakt der 41. Ausgabe von Impulstanz stellten die humorvolle Installation “Choreographic Objects” von William Forsythe und die kollaborative Arbeit an Vivaldis “Vier Jahreszeiten” von Anne Teresa de Keersmaeker mit Radouan Mriziga auf sehr unterschiedliche Art die Kunst der Bewegung in den Mittelpunkt. Als weitere Highlights folgten: Liquid Lofts magischer Techno-Trip und eine verstörende Doku-Performance von Sidi Larbi Cherkaoui.
Einladung zum Tanz
Mit seinen “Choreographic Objects” bietet William Forsythe Besucher*innen im MAK die Gelegenheit eigene choreografische Erfahrungen zu machen. Ob die Anweisung lautet, ohne Rhythmus durch einen Raum zu gehen oder eine Bewegung zu machen, während gleichzeitig eine andere auszuführen ist – diese Aufgaben sind so einfach nicht zu lösen. In der Fortbewegung drängt sich der Rhythmus auf. Einzelne Körperteile gleichzeitig bzw. als Add-ons zu bewegen, versetzt den Körper bald in einen Knoten.
Kernstück des Forsytheschen Ausstellungsparcours aus vier interaktiven Installationen heißt “Nowhere and Everywhere at the Same Time”. Hier geht es darum, sich einen Weg durch ein Feld mit schwingenden Pendeln zu bewegen ohne diese zu berühren. In einem anderen Raum werden die Bewegungen der Besucher*innen von einer Kamera eingefangen und im Zerrspiegel auf eine Videowall projiziert.
“Choreographic Objects” ist eine vergnügliche Reise, in der der Choreograf mit dem (Un-)Vermögen spielt, kinetische Muster zu brechen. Gleichzeitig macht er diese für die Besucherin bewusst und vergnüglich erfahrbar.
Hommage an die Experimentierfreude
Virtuos ging es hingegen bei “Il Cimento dell’Armonia e dell’Inventione” weiter, eine Arbeit für die Anne Teresa de Keersmaeker ihren Choreografen-Kollegen Radouan Mriziga zur Mitarbeit eingeladen hat. Die beiden entstammen nicht nur unterschiedlichen Generationen, sondern haben einen beinahe konträren Arbeitsstil. De Keersmaeker setzt sich in ihren Arbeiten intensiv mit musikalischen Strukturen auseinander, während der aus Marrakesch stammende Mriziga sich ausschließlich mit dem Rhythmus beschäftigt: “I only hear rhythms, and I focus on what is hidden inside the music: hidden pulsations, hidden rhythms. This is how I access music, through rhythm. For me, it is not necessary for the entire piece of music to be audible in the performance. Maybe none of it has to be audible. That is another way in which I relate to music”, sagt er in einem Interview.
Die vier Jahreszeiten, also Frühling, Sommer, Herbst und Winter sind die ersten vier in einer Serie von Konzerten, die unter dem Titel “Il Cimento dell’Armonia e dell’Inventione” („Der Wettstreit zwischen Harmonie und Erfindung“) zusammengefasst sind und mit der Vivaldi auf seine Experimentierfreudigkeit hinweisen wollte. Diese Idee greift das künstlerische Team im gleichnamigen Programm auf. Zusammen mit der Geigerin Amandine Beyer, erkunden die Choreograf*innen Vivaldis “Le quattro stagione” also nicht nur auf der musikalischen Ebene.
Bereits in der ersten Szene gibt es einen Hinweis auf die choreografische Methode: Auf der Rück- und den Seitenwänden flackerten Neonröhren in unkoordinierter Abfolge und lösten damit erst einmal Irritation aus, die bald wich , als das Flimmern einem rhythmischen Muster zu folgen begann. Auf der Bühne folgte der erste Teil einem Prozess der Dekonstruktion, zumeist ohne Musik, in dem die Tänzer thematische Gesten und Geräusche einführten, Referenzen an die Natur wie Vogelzwitschern, oder an die Jahreszeiten wie Saat ausstreuen oder Insekten vertreiben. Oder tänzerische Szenen lieferten ohne einem Narrativ zu folgen. Das alles passiert in einer zufällig wirkenden Anordnung.
Erst im zweiten Teil erlebte man das Konzert tänzerisch und musikalisch. Und hier setzte De Keersmaekers ihre stringente choreografische Handschrift ein: schnelle, aufrechte Körper im Sog eines aufregenden musikalischen Momentums. Hin und wieder wird ein Element des Vorangegangenen aufgegriffen, doch nun entfalten sich die Jahreszeiten musikalisch in der großartigen Aufnahme von Amandin Beyer und Gli Incogniti und mit den ebenso herausragenden Tänzern. Boštjan Antončič eröffnete das Bühnengeschehen und etablierte mit einem Solo die tänzerische Qualität, die alle vier auf so unterschiedliche Weise erfüllten. Immer wieder gab es Zwischenapplaus, etwa für ein cooles Stepp-Duett von Lav Crnčević und José Paul Dos Santos (ohne Musik) oder die Break Dance Stunts von Nassim Baddaq. Und am Ende: Jubel, zu Recht!
Technologische Mystik
Wenn Chris Haring und das Team von Liquid Loft ihren Medienkoffer auspacken, dann entführen sie das Publikum in eine digitales Wonderland. In ihrer Installation “In Medeas Res” bezieht sich Liquid Loft auf Pasolinis “Medea”-Film mit Maria Callas, aber auch auf Heiner Müllers Medea, die da fragt. “Wie lebst du in den Trümmern deines Leibes?”
In der Installation folgen wir live, wie aus Stofffetzen, kleinen Skulpturen oder Schnüren immer neue Landschaften entstehen, wenn die Tänzer*innen Hannah Timbrell und Dong Uk Kim die Lichtquellen und Kameras neu positionieren.
Rätselhaft wie aus abstrakten Objekten ein Body Armour um eine inner Leere wie bei einem Dementor aus der Harry-Potter-Welt wird, unverständlich, wie durch die mediale Manipulation undefinierte Stoffteile zu Kinderleichen mutieren oder Blutlachen entstehen. Die Tänzer*innen agieren als Medienmanager*innen im Dienst der technologischen Mystik und unterstützen diese mit ihren Körpern als Projektionsflächen. Es ist ein präzise Aufgabe diese Fantasy-World aus Bild und Ton entstehen zu lassen, zum Beispiel auch bei dem Liquid-Loft-Markenzeichen, wenn die Tänzer*innen ihre Lippen im exakten Playback zu den eingespielten Textfragmenten bewegen.
Die Klangobjekte von Patrizia Ruthensteiner gurgeln und wabbern und der Sound von Andreas Berger treibt die Performance-Installation auf die Katharsis der blutigen Tragödie zu, um sie in einem beinahe romantischen Ende versöhnlich enden zu lassen.
Mit scheinbar bescheidenen Mitteln erreicht Liquid Loft bildgewaltige Wirkung, die erst in der Fantasie des Publikums Gestalt annimmt.
Drei Doku-Performances
Das Medium Film (Sabine Groenwegen) war bei Sidi Larbi Cherkaouis Produktion “3S” für den Kontext zuständig, vor dem drei Solist*innen traumatische Storys erzählen. Wir sehen Filmclips aus den 1950er Jahren, einer Zeit der atomaren Aufrüstung und der kollektiven Angst, kurz nachdem die ersten Atombomben Hiroshima und Nagasaki verwüstet haben.
Kazutomi “Tsuki” Kozuki hat hinter einem Schreibtisch Platz genommen. Er trägt einen schwarzen Anzug, weißes Hemd, schwarze Krawatte und sinniert über die beste Selbstmord-Methode. Der Monolog auf japanisch wird in der deutschen und englischen Übersetzung auf den Bühnenhintergrund projiziert. Er schweift ab, überlegt, was von ihm übrig bleibt, wenn er einmal nicht ist … Das Nachkriegstrauma wird abgelöst vom Supergau in Fukushima, Kozuki zieht sich um, legt einen Strahlenschutzanzug an und wird zu einem Arbeiter, der mit dem Geigerzähler die Strahlung misst. Schließlich verkörpert er jenen Mann der im Film über seine Rückkehr nach Jahren der Evakuierung aus dem verseuchten Gebiet spricht.
Auftritt Michel Sinisterra Munoz. Der gebürtiger Kolombianer zieht seine Kampfesuniform an, bewaffnet sich mit einem Messer, einem Revolver und einem Gewehr. Er beschreibt eine Kampfsituation, die Angst des Soldaten – der Text ist ein Bericht der CNN-Reporterin Arwa Damon aus Syrien, auf dem Bildschirm sieht man Fotos der kolumbianischen Guerilla-Organisation FARC, die Deportation von Geflüchteten durch die ICE (U.S. Immigration and Costums Enforcement) oder eine Verfolgungsjagd in einem Computerspiel. Am Ende seines Solos wird sich Sinisterra Munoz einen Sprengstoffgürtel anlegen und sich in die Luft sprengen.
Wunderbare Unterwasseraufnahmen begleiten das Solo von Christina Guieb, deren Geschichte von der rücksichtslose Landnahme der Öl- und Gasindustrie handelt, Land in dem die Aborigines in Australien ihre Songlines ziehen. “My story is your story”, sagt sie. So beginnt auch die Erzählung der Poetin und Aktivistin Alice Eather im Film, die davon handeln, wie die Ozeane alles auf dieser Welt verbinden, wie Eingriffe wie Ölbohrungen und Freaking auf einem Ort alle anderen beeinflusst. Das Solo endet mit dem Gedicht “Yúya Karrabúrra” (Fire is Burning) der Poetin, die sich 2017 im Alter von 28 Jahren das Leben nahm.
Diese realen Geschichten, die wir hinlänglich aus den Nachrichten kennen, inszeniert Cherkaoui als einsame Tanzsoli, die von Ghalia Benali, Patrizia Bovi und Tsubasa Hori musikalisch eindringlich begleitet werden. Nichts an den künstlerischen Darbietungen mildert den Horror der erzählten Geschichten, aber eröffnen sie auch neue Persepktiven?
In dieser Doku-Performance verhandeln die Künstler*innen harte poliltische Realitäten. Auch wenn die Geschichten mit dem Herkunftsland der Tänzer*innnen korrelieren, geht Cherkaoui damit weit über die Identitätsfrage hinaus und schafft eine Verbindung zwischen den Erzählungen.
“Wenn der Planet leidet, leiden auch wir” sagt der Choreograf. Indem er die scheinbar voneinander unabhängigen Ereignisse aus Japan, Kolumbien und Australien auf der Bühne miteinander verbindet, verstärkt er die verzweifelte Botschaft, die im Tanz, in der Musik, im Film und im Text verhandelt wird. Einen positiven Ausblick gibt es nicht, kann es nicht geben. Denn ja, die FARC mag entwaffnet worden sein, dafür brennt (unter anderen) der Nahe Osten. Auch wenn die australische Regierung 2021 die Ausbeutung der Meeresbodens für Mineralien verboten hat, geht sie anderswo munter weiter. Auch wenn seit 1945 keine atomaren Kriegswaffen eingesetzt wurden, es gibt sie und sie –ebenso wie die “friedliche” Nutzung der Atomkraft – sind eine permanente Bedrohungen für unsere Existenz.
Das Zurückgeworfen-Sein des Einzelnen auf diese Tatsachen führt zum in "3S" zum Suizid der Protagonist*innen, stehen diese individuellen Handlungen doch für die mögliche Auslöschung der Menschheit, der wir vielleicht näher sind als je zuvor.
William Forsythe: “Choreographic Objects” im MAK noch bis 18. August; Anne Teresa De Keersmaeker, Radouan Mriziga / Rosas: “Il Cimento dell’Armonia e dell’Inventione”, gesehen am 16. Juli im Volkstheater; Liquid Loft / Chris Haring: “In Medeas Res”, gesehen am 20. Juli im Künstlerhaus Factory; Sidi Larbi Cherkaoui / Eastman: “3S”, Premiere am 20. Juli im Volkstheater. Letzte Vorstellung am 22. Juli