Zehn Jahr nach seiner Uraufführung beim Royal Ballet ist Christopher Wheeldons Erfolgsstück “The Winter’s Tale” nach dem gleichnamigen Spätwerk von William Shakespeare in Wien gelandet. Das Ballett mit seiner variationsreichen Ausstattung, mit wirkungsvollen visuellen Effekten und der Musik von Joby Talbot hinterlässt hier durchaus gemischte Gefühle.
Keine Frage, Christopher Wheeldon versteht es Geschichten zu erzählen. In einem Prolog setzt er den Rahmen für die Handlung seines Balletts auf der Grundlage von Shakespeares wortreichem und sprachgewaltigem Stückes. Das Publikum muss die literarische Vorlage nicht kennen um dem Narrativ des Balletts in drei Akten zu folgen. Es ist klar dargestellt, in einem Theaterereignis mit der opulenten Ausstattung und den edlen bis kitschigen Kostümen von Bob Crowley sowie mit effektvollen Silk Effects von Basil Twist. Insofern ist Christopher Wheeldon ein ausgezeichneter Handwerker. Das ist nicht nichts. Doch seine geschmäcklerische Tanzsprache wirft einige Fragen auf.
Die Handlung im ersten Akt ist dramatisch: Es wird das Wiedersehen der beiden Freunde Leontes, König von Sizilien (Brendan Saye) und Polixenes, König von Böhmen (Masayu Kimoto) erzählt, die als Kinder getrennt wurden (dargestellt im Prolog). Die alte Verbundenheit, die auch von Leontes Frau Hermione (Hyo-Jung Kang) und deren Sohn Mamillius (Ballett Elève Julius Urga) geteilt wird, bekommt Risse. Leontes, rasend vor Eifersucht, ist sich der Vaterschaft seines zweiten Kindes nicht mehr sicher. Er zerstreitet sich mit Polixenes, verstößt seine Frau und befiehlt, die neu geborene Prinzessin auszusetzen. Aus Kummer über das Zerwürfnis der Eltern fällt Mamillius leblos zu Boden, und auch Hermione scheint an gebrochenem Herzen zu sterben.
Das wird von Wheeldon in Stummfilm-Manier in Szene gesetzt: Traditionelles Ballettvokabular wird hier mit expressiven Gesten verbrämt. Die Charaktere wirken wie holzschnittartige Figuren. Joby Talbots Musik wirkt cineastisch verstärkend, allerdings wird sie in der Dichte, ohne szenische Unterbrechung, irritierend. Ein großartiger Kunstgriff sind die lebensgroßen Skulpturen, die Leontes psychische Transformation illustrieren.
Erst das letzte Bild wühlt auf. Paulina (Ketevan Papava) verabschiedet ihren Mann: Antigonus soll die Prinzessin an einen sicheren Ort zu bringen. Das Schiff gerät in einen Sturm, landet wohl am Nordpol, wo Antigonus (Zsolt Török) von einem Eisbären erlegt wird, was mit den Projektionen auf einen flatternden Stoff eindrucksvoll vermittelt wird.
Der zweite Akt stellt uns die verschleppte Prinzessin Perdita (Ioanna Avraam), die von Hirten gefunden worden war, in einem dörflichen Ambiente vor. Sie wird sich mit Florizel (Davide Dato), der sich als Schäfer ausgibt, aber eigentlich der Sohn von Polixenes ist, verloben. Der Vater stürmt ein in die Idylle. Er ist mit der unstandesgemäßen Verbindung nicht einverstanden. Das Paar flieht. Diesmal segelt das Schiff auf der Leinwand in ruhigen Gewässern, wird aber hart von der Mannschaft des missgünstigen Polixenes verfolgt.
Doch davor wird das Frühlingsfest ausgiebig gefeiert. Mit einem Medley aus Folkloretänzen tobt sich das Ensemble – in luftig-hellen Kleidchen die Damen und in buntem Outfit die Herren, als lustiges Volk über die Bühne – frei nach “Giselle”. Geschätzte 30 Minuten lang.
Im dritten Akt finden Perdita und Florizel bei Leontes Zuflucht. Dieser wird von Paulina wieder sanft in die Realität geführt. Die Identität Perditas wird aufgeklärt, sie und Florizel können jetzt heiraten. Als die Gedenkstatue an Hermione und Mamillius enthüllt wird, ereignet sich das scheinbare Wunder: Hermione steigt vom Podest ins Leben zurück. “Die Familie ist wieder vereint”, erklärt das Programmheft.
Bei Shakespeare ist das zwar keineswegs so eindeutig, aber Wheeldon hat die Geschichte eben ballettgerecht auf den essenziellen Handlungsstrang verdichtet. Der Humor der literarischen Vorlage hat darin ebensowenig Platz wie die Mehrdeutigkeit der verhandelten Gefühle. Einzig Ketevan Papava vermag an diesem Abend den emotionalen Gehalt zu vermitteln und den expressiven Gesten Bedeutung zu geben.
Die Solist*innen und das Ensemble des Wiener Staatsballetts interpretieren diese Mischung souverän und engagiert, ebenso wie das Orchester der Wiener Staatsoper unter der Leitung von Christoph Koncz. Doch sie können nicht mitreißen, können die Zuseherin nicht fesseln. Generell blickt man mit Interesse auf das Bühnengeschehen, denn einerseits wird die Dramaturgie konsequent verfolgt, in der Darstellung des Ablaufs ebenso wie in den Kostümen: dunkle Töne im ersten Akt, helle Kleidung im dritten Akt, mit Farbgebung und Requisiten als Wiedererkennungsmerkmale. Doch das choreografische Puzzle aus Zitaten und Versatzstücken vom klassischen Ballett, über Folklore bis zum modernen Tanz und die repetitiv-eindringliche Musik erzeugen beim Zusehen eine ratlose Distanz.
Wiener Staatsballett: "The Winter's Tale", Premiere am 19. November 2024 an der Wiener Staatsoper. Weitere Aufführungen am 21., 23., 26., 29. November, 1., 6., 17., 20. Dezember.