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Schaller1Zeitgenössischer Tanz in der bislang größten Arbeit von Eva-Maria Schaller und kompromisslos neue Musik, von Matthias Kranebitter eigens hierfür komponiert und von seinem Black Page Orchestra intoniert, treffen sich in dem hier uraufgeführten, von Virginia Wolfs 1928 erschienenem Roman „Orlando“ inspirierten Stück „O! A Biography“. Ein vieldimensionales opéra-ballet, das die Choreografin selbst mit „Als Tänzerin bin ich viele.“ überschrieb.

Ihrem bisherigen Fokus auf „emanzipatorische, verkörperte Tanzgeschichtsschreibung“ (Programmzettel) und der jahrelangen Beschäftigung mit diesem Thema fügt Eva-Maria Schaller in dieser Arbeit eine weit darüber hinausgehende Dimension hinzu. Im Rahmen der Beschäftigung mit den hier zitierten Werken der Opern- und Ballett-Literatur extrahiert sie aus deren Metaphoriken fundamentale Aussagen über individuelle und gesellschaftliche Potentiale, Werte und Wege.

Das Stück ist ein Puzzle aus ins Bewusstsein gehobenen oder aufgestiegenen Fragmenten von Ballettsequenzen, Opernszenen und Bewegungsmaterial, das hier neu zusammengesetzt wird und sich somit einer die bisherigen Bewertungen hinterfragenden Begutachtung anempfiehlt. Die im Programmzettel diesem Stück zugeschriebene Suche nach einer biografischen Utopie ist jedoch keine solche. Betrachtet man neben den bewussten auch die unbewussten Aspekte (das kollektive Unbewusste einbegriffen), ergibt sich ein äußerst komplexes Bild einer (jeden) Persönlichkeit. Und an diesem Bild arbeitet „O! A Biography“.Schaller2

Es beginnt bereits mit dem klaren Bühnenbild von Gabriela Neubauer und Helena Sophia Adam. Auf gewundenen Pfaden und eine Gruppe abseits davon installiert wachsen metallische Stelen in den Himmel, nach oben hin auseinander strebend. Zu ihren Füßen entwickelt sich das Bühnenleben. In allem wohnt ein Potential, das, sobald befreit, Großes werden kann. Gleicher Boden nährt so vieles. Den jungen, bereits jetzt wunderbaren TänzerInnen der MUK kann ihre Zukunft kaum schöner verheißen werden.

Die Kostüme der Tanzenden, Schaller heuerte neben Mani Obeya, einem erfahrenen und gefragten Tänzer, Singer/Songwriter und Choreografen, zwölf Studierende des Studiengangs Tanz an der MUK, der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien, an, unterstreichen unaufdringlich Individualität. Kegelförmige Reifröcke in einer Szene und anonymisierende Gesichts-Masken in einer anderen bringen Epochen und deren Qualitäten und darin eingebettete Selbstwahrnehmung ein.

Schaller3Diese zwölf, Obeya und sich selbst choreografierte Schaller in ein Zwiegespräch mit der Musik. Diese, eine Auftragskomposition von Matthias Kranebitter, verbindet Orchestermusik mit elektronischer. Der Komponist verwebt darin radikal neue Musik mit Synthesizer-Klängen zu einem hochdynamischen, ungemein packenden Werk, das vom 13-köpfigen Black Page Orchestra, Kranebitter selbst bedient die Elektronik, unter der musikalischen Leitung der spanischen Dirigentin Irene Delgado-Jiménez meisterlich gespielt wird. Der Countertenor Georg A. Bochow beginnt in tiefen Brusttönen auf dem hinten aufgebauten Podium für die MusikerInnen, begibt sich alsbald in die hohen Lagen der Kopfstimme und performativ auf die Bühne unters tanzende Volk.

Erst die Beschäftigung mit dem Libretto, als Teil des Programmzettels mitgegeben, ermöglicht die Wahrnehmung der ganzen Komplexität und Tiefe dieses Stückes. Es gibt Hinweise auf das gedankliche und spirituelle Fundament dieses Stückes. Der erweiterte Begriff einer Tänzerinnen-Biografie ist nur der Ausgangspunkt. Die Dynamiken während der Aufführung selbst, Tanz, Orchestermusik, Gesang, englisch gesprochener Text mit deutschen Übertiteln, und jedes für sich verlangt volle Aufmerksamkeit, erwecken den Eindruck einer Überfrachtung. Die Lektüre danach jedoch rundet das Bild und muss somit als integraler Bestandteil der Performance gesehen werden. 

Was dann aufsteigt aus den fünf „Aufzügen“, in die der Text das Stück gliedert, wird zum schlaglichtartigen Blick auf einen seit Jahrhunderten währenden künstlerischen und menschlichen Entwicklungs-Prozess, dessen Beginn weit vor der in Wolfs Roman beschriebenen geschlechtlichen Transformation Orlandos vom Mann zur Frau im 17. Jahrhundert liegt und der hier als ein noch andauernder erzählt wird.Schaller4

In die Ursuppe aus Bewegungsstudien, die zwölf MUK-Studierenden mögen beispielhaft für die Vielfalt der Einflüsse und Möglichkeiten einer, der in zwölf Teile gespaltenen Schaller'schen Tänzerinnen-Persönlichkeit stehen, schießen impulsartig, kompositorisch wunderbar umgesetzt mit in Einzelstimmen kurz einbrechender Gesamt-Orchester-Gewalt, wie aus dem Unbewussten kurz aufsteigende Prägungen durch Ausbildung und Aufführungspraxis. Diese werden im Verlauf der Performance konkreter. Eva-Maria Schaller beweist sich in ihren eingestreuten Soli als herausragende Tänzerin.

Bereits mit der „Ouverture (Was ist, wenn?)“ schlägt Schaller die das Stück choreografisch und musikalisch prägenden inhaltlichen Pflöcke ein. Mit der geschlechtlichen Transformation Orlandos enthebt sich Schaller jeder Geschlechtlichkeit. Sie öffnet damit Räume anstatt Opposition zu etablieren. Sein respektive ihr jahrhundertelanges Leben verschränkt sie mit den vielen Ichs, die sie einlud. Als sagte sie: Ich bin das Eine und auch das Alles, bin aller Raum und alle Zeit und alles Leben. Ich bin alles und ewig. Und daraus schöpfe ich!

Schaller5„Embodied Memory #1 Goldklumpen (Arbeit)“: „Du trägst das Gold oder trägt das Gold dich?“ Ein Goldklumpen wird zum Symbol für uns selbst. Empfunden als lastendes Gewicht, zu erkennen als ungeheuer wertvolles Vermächtnis und umzusetzen als größte, schwerste und schönste Aufgabe eines (TänzerInnen-) Lebens: Man selbst zu werden. Vom Zwerg zum Hauptdarsteller.

Embodied Memory #2 Zaubertöne (Liebe)“: Die Zahl Drei dominiert Mozarts „Zauberflöte“ (jener Flöte, mit der man die Menschen friedfertig stimmen kann). Von Reinheit, Keuschheit und Sittsamkeit wird dort gesungen. Drei christlich-sozial etablierte und im Leben ständig unterlaufene, ad absurdum geführte Werte. Tief ins Unbewusste der christlich geprägten Kulturen eingegraben, sabotieren sie als Werte-Korsett die Integration aller ihnen widersprechenden Aspekte und damit die Akzeptanz des Selbst in seiner Gesamtheit. Und damit Selbst-Liebe. Und damit Liebe.

In „O! A Biography (All das)“ geht die multiple Persönlichkeit Eva-Maria zurück in ihre Jugend und ihre Tänzerinnen-Erlebnisse, autobiografisch, berichtet und getanzt von der Kompanie, begleitet von erregenden Klängen, durchsetzt mit verfremdeten Zitaten aus zum Beispiel Wagners „Rheingold“, Mozarts „Zauberflöte“ oder einem Strauß'schen Walzer. Hier reist sie mit den Stoffen durch die Zeiten, mit den Themen in ihre damals noch so egozentrische Welt. Sie beschreibt die Koexistenz der vielen in ihr wohnenden Aspekte, die verbal, tänzerisch und musikalisch ein Gespräch in Fetzen zu führen scheinen, und den natürlichen Narzissmus als eine zu überwindende und überwundene Phase. Und dann, zum Ende: „Embodied Memory #3,4 (Zurück zum Anfang)“.Schaller6

„O! A Biography“ stellt in einer erweiterten, metaphorischen Sicht die Frage: „Was macht uns als Mensch, was macht mich als Tänzerin aus?“ Wir sind alles. Wir müssen es uns nur bewusst machen. Die Musik gräbt sich hinein in diese Tiefen, gräbt vieles aus, lässt impulsartig hinauf drängen, was da ist und was alsbald wieder verschwindet im Dunkel. Mögen wir diese Impulse als Geschenk erkennen, künstlerisch und menschlich. Und als impliziten Appell liefert Eva-Maria Schaller mit: Nutzen wir es, um uns zu weiten, um uns zu versöhnen und Frieden zu schließen mit uns selbst, um Frieden zu schaffen mit der Welt und in ihr. Eine kluge, großartige, am Ende lang bejubelte Arbeit!

Eva-Maria Schaller und Matthias Kranebitter mit „O! A Biography“ am 15.11.2024 im Tanzquartier Wien. Eine Koproduktion von choreographic signatures mit Tanzquartier Wien und Wien Modern.

O! A Biography (c) Apollonia Theresa Bitzan 3