Grandios! Marcos Moraus choreografischer Essay über den Komponisten Ennio Morricone besticht durch seine Auseinandersetzung mit dem Komponisten und seiner Musik ebenso wie durch die präzise Interpretation der eigenständigen Bewegungssprache, die das Stück durchgehend prägt, atemberaubend getanzt vom Aterballetto. Eine musikalisch-tänzerische Begegnung auf Augenhöhe.
In der Nacht erwacht die kreative Brutstätte des Musikers zu Leben, kommen die Inspirationen, Gedanken und Melodien in vielfältiger Gestalt. In dieser “Notte Morricone” erscheint der Komponist in x-facher Ausgabe, einerseits durch die 16 Tänzer*innen des Aterballetto, andererseits durch Handpuppen verkörpert. Diese Vervielfältigung entspricht dem Arbeitspensum des Komponisten, und ermöglicht gleichzeitig ein einfühlsames und sorgfältig gezeichnetes Psychogramm eines Ausnahmekünstlers.
Ennio Morricone (1928-2020) schrieb nicht nur Filmmusik sondern auch Filmgeschichte, gilt er doch als der bedeutendste Komponist dieses Genres. Ihm gelang es nicht nur, die richtigen Töne für eine Leinwandgeschichte zu finden, sondern ein musikalisches Universum zu eröffnen, das auch ohne die bewegten Bilder Bestand hatte. "Ich wollte wissen, wie ein Mensch klingt, wenn ihn niemand ansieht", wird er zitiert. Seit den 1970er Jahren wurde er zu einer kulturellen Ikone für Generationen.
Auch wenn er über 500 Filmmusiken komponiert hat, sind die Soundtracks zu den Italo-Western mit Sergio Leone, die seinen Ruhm begründeten, bis heute seine Signaturstücke.
Sie nehmen auch in der “Notte Morricone”, wunderbar interpretiert vom Tonkünstler Orchester Niederösterreich (TON) und der Sopranistin Federica Caseti Balucani unter der Leitung von Maurizio Billi, breiten Raum ein. Gleichzeitig klingt in der Collage aus elektronischen Versatzstücken, Filmeinspielungen und der Musik aus dem Orchestergraben das stilistisch vielfältige Klangspektrum des Komponisten an – ja, er hat auch für Schlager für Paul Anka, Zucchero und andere komponiert. Alex Röser Vatiché und Ben Meerwein haben Morricones Oeuvre mit ihrem Sounddesign und zusätzlichen Kompositionen verstärkt.
In seiner Choreografie versucht Morau nicht, Morricones Musik zu vertanzen. Er schweift nie von seinem stringenten Stil ab und der Tanz besteht ebenso als eigenständiges Kunstwerk wie Morricones Musik ohne filmische Bilder.
Die Stakkato-Tanzsprache mit abgehackten, dissoziierten und isolierten Bewegungen einzelner Körperteile evoziert den Rhythmus, wenn Filme von einem Frame zum nächsten springen. Gleichzeitig entsteht daraus eine surreale Welt. Mit unglaublichem Tempo wechseln die Tänzer*innen von einem Bild in das nächste. In die Ensembleszenen sind gelegentlich kurze, spannende Pas de deux wie starkte Akzente eingesetzt. Wie einst der Komponist von Musiker*innen inspiriert wurde, so stellt man sich hier vor, wie diese wunderbar gewandten und engagierten Tänzer*innen den Choreografen beflügelten, die als Puppenspieler*innen, pantomimende Musiker*innen und Sänger*innen gleichermaßen überzeugen.
Ähnlich wie im Film findet Morau auf der Bühne sein eigenes Narrativ, das sich parallel zur Musik entwickelt. Dazu gehören Original-Beiträge aus Interviews und Reden von Morricone (zum Beispiel bei der Verleihung des Oscars für sein Lebenswerk im Jahr 2024), die von einer von den Tänzer*innen geleiteten Handpuppe nachgestellt wird. Zusätzliche Texte von Carmina S. Belda versuchen einen Einblick in die Gedankewelt eines kreativen Giganten zu geben. Dabei kommt seine Liebe zum Schachspiel zu Sprache, wird seine Frau Maria (Travia), mit der er 63 Jahre verheiratet war und vier Kinder hatte, mehrmals erwähnt. Eine fast beiläufige Anerkennung ihrer Leistung auch als Texterin für seine Musik.
Die Sprache fügt sich nahtlos in eine harmonische Ästhetik ein. Die Kostüme von Silvia Delagneau, die sich mit einem einfachen Dreh verändern sowie das kongeniale Bühnenbild und Lichtdesign von Marc Salicrù machen diese “Notte Morricone” zu einem eindrucksvollen Gesamtkunstwerk, in dem sich Momente des Pathos durchaus stimmig einfügen.
Marco Morau, CCN/Aterballetto und Tonkünstler-Orchester Niederösterreich: “Notte Morricone” am 23. November im Festspielhaus St. Pölten