Die Größe der hebräisch-arabischen Rock- und Popmusik Dikla und die israelische Choreografin und Tänzerin Yasmeen Godder arbeiten seit nunmehr 23 Jahren zusammen. Für „Shout Aloud“ nahmen sie Diklas im Jahr 2000 veröffentlichtes Debütalbum „Ahava Musica“ („Musik der Liebe“) als Basis für ein Konzert-Tanz-Stück über die Liebe zu sich selbst, Empathie und die Wirkungen von gemeinsamem Tanz.
Acht Tänzerinnen, neun MusikerInnen (in zwei Fraktionen hinten organisiert) und eine charismatische Sängerin bevölkern die Bühne in einem stetig wechselnden Setup. In Israel ist sie ein Superstar. Ihre jüdisch-ägyptischen Wurzeln einbringend verschmilzt die Sängerin, Musikproduzentin, Komponistin und Schauspielerin Dikla in ihrer Musik arabische Klänge und Rhythmen mit energiegeladenem, westlichem Pop und experimenteller Rockmusik.
Die Texte der Songs, Dikla singt hebräisch, arabisch (und in ihrer arabischen Adaption des Songs „Talk to me“ von den Eurythmics auch einmal englisch), mögen nicht verstanden werden. Dennoch vermittelt ihre Musik mit der Art und Weise von Komposition, Instrumentierung, Akzentuierung, Interpretation und stimmlichem Duktus der Sängerin eine Illusion von einem Inhalt oder ein Gefühl für das Thema.
Ihr und ihrem Orchester, das wie eine Rockband, erweitert um zwei Violinen und einige orientalische Instrumente, besetzt ist, zuzuhören, ist ein Genuss. Die Musiker spielen den kulturellen Mix sehr selbstverständlich, als organische Melange mit kulturell spezifischen Akzenten. Diklas Stimme besticht mit ihrer Kraft, ihrem dunklen Timbre und ihrer Modulationsfähigkeit. Auf jeden Fall eine Entdeckung und auch ohne den Tanz schon ein Erlebnis!
Seit 2019 entwickelt die Choreografin Yasmeen Godder Arbeiten im Rahmen der Serie „Practicing Empathy“, in der sie erforscht, „wie durch Tanz und performative Begegnungen alternative Wege des Zusammenseins geschaffen werden können und welche Rolle dabei der Faktor Empathie spielt.“ (Programmzettel) Das deutsch-israelische Forschungsprojekt „Störung/Hafrah'ah“ im Jahr 2015, das professionelle TänzerInnen, WissenschaftlerInnen und Menschen mit Parkinson zusammenführte, um gemeinsam Bewegung zu erforschen, und die damit einhergehende Entdeckung des Tanzes als Mittel, das direkt und indirekt berühren und bewegen kann, markierten einen Wendepunkt in ihrer Arbeitsweise, die bis dahin als grotesk und schwer fassbar galt.
In „Shout Aloud“, uraufgeführt am 19. Juni 2024 in Frankfurt und im Festspielhaus St. Pölten als Österreichische Erstaufführung gezeigt, inszeniert sie Dikla als mondäne Diva auf einem Podest. Ja, sie kann sich ihrer Haut nicht erwehren und Godder lässt sie strahlen. Alsbald jedoch begibt sich Dikla auf die Ebene der acht tanzenden Frauen.
Die Fragilität der Gesellschaften im Nahen Osten, die über Jahrzehnte anhaltende und seit einem Jahr (wieder einmal) eskalierende Gewalt und die darüber gerechtfertigte Zementierung patriarchaler Strukturen auf allen Seiten des Konfliktes bilden das Fundament für diese künstlerische Reflexion über die Situation der Frauen in ihm. Das Beben, das der mörderische Hamas-Anschlag vom 7. Oktober 2023 verursachte, in der Folge zerbombte Städte, zehntausende Tote, Flucht und Vertreibung, hinterließ deutliche Spuren in den Seelen, die da tanzen.
Jedes Leben ist einzigartig, jede Geschichte erzählenswert und jeder Mensch hat einen legitimen Glücksanspruch. Das Orchester der Individuen entwickelt erst mit der ausgewogenen Repräsentation einer jeden Stimme seinen maximalen Wohlklang. Diesem streben sie in ihrem Tanz zu. Der ist wie ein Ritual, das vom Schmerz in eine, wenn auch getrübte, so doch Freude führt. Unter Einsatz auch der eigenen Stimmen dekonstruieren sie weibliche Stereotype und Zuschreibungen. Sie erlauben sich das Frau-Sein, mit all seinen Facetten.
Die Kostüme von Shahar Avnet erzählen eine Geschichte, die die Dramaturgie von Musik und Tanz auf ihre Weise abbilden. Aus einem weiblicher Organismus, dessen einzelne Teile sich verschieden farbig in gebrochenen Tüll gekleidet mit Klagelauten und von Stampfen begleitetem Sirenengeheul synchronisieren, separieren sich Individuen. Ihre Kostüme wirken wie dem männlichen Blick sich andienender Zierrat.
Eine Tänzerin spricht zum Publikum und lädt es ein, sich frei zu fühlen, sich zu erheben, zu tanzen. Das Bewegungsmaterial der acht mischt Zeitgenössisches mit klassischen Zitaten, orientalische Moves, Akrobatik und Skulpturales. Sie entledigen sie sich des ihnen fremden Schmuckes. Nur in enge Leotards gekleidet fangen sie sich auf, halten sich, erleben Beistand und Solidarität. Auch laszive Bewegungen, solistisch und im Duett getanzte Erotik, angedeutete Kopulationen. Sexuelle Selbstermächtigung.
Ihre Sehnsucht nach Geborgenheit in dieser von Gewalt und Zerstörung geprägten Zeit und Region wird allzu deutlich. Physische und seelische Entwurzelung, Verunsicherung und innere Zerrissenheit, Angst und Verzweiflung tanzen und schreien sie hinaus. Die Hände würgend am Hals, aufgerissene Münder, Unterdrückung und Auflehnung gegen diese. Dikla erscheint zwischendurch wie die Karikatur einer vom patriarchalen Blick geformten, genormten Diva.
Äußerst expressiv ist ihr Tanz, impulsiv und spröde, bewegend ihre Authentizität und Emotionalität. Aus Trauer, Rat- und Hilflosigkeit, Wut und Aggressivität wachsen Aufbegehren, weiblicher Zusammenhalt und Ausdauer in ihrem Kampf um Selbstbestimmung. Die acht erarbeiten sich Selbstbewusstsein. Sie schleudern ihre offenen Haare, tanzen kämpferische Soli und finden sich am Ende, jede in ein kräftig gefärbtes, nun aber ihr Tüll-Kleid gehüllt, zusammen zu einem rituellen Tanz. Sie feiern sich selbst, ihr Ich, ihr So-Sein, ihre beispielhafte Selbstermächtigung. Und ihre Gemeinschaft aus Verschiedenen.
Mit „Shout Aloud“ formuliert Godder ein starkes Statement, dessen Bedeutung angesichts der aktuellen Situation im Nahen Osten nicht überbewertet werden kann und das weit über seinen Herkunftskreis und sogar über seinen feministischen Duktus hinaus gelesen werden kann und muss: Die Basis für eine funktionierende, friedliche Gesellschaft ist das empathische Miteinander all seiner Mitglieder. Gemeinsam mit Musik und Tanz macht das die euphorisierende Wirkung dieses mit Standing Ovations gefeierten Abends aus.
Yasmeen Godder . Dikla mit „Shout Aloud“ am 30.11.2024 im Festspielhaus St. Pölten.