Wunderbar im engen Sinne des Wortes, aber auch und noch vieles mehr: Das ist das weltmeisterliche Ausnahmekönnen der australischen Cirque Nouveau Gruppe „Gravity & Other Myths“. Die Grazer und unzählige, die ihretwegen in die Stadt kommen (nahezu alle Vorstellungen sind ausverkauft), bewunderten sie voriges Jahr und tun es seit ihrem Erstauftritt 2017 im Rahmen des Festivals Cirque Noël.
Es ist die kreative Bandbreite ihres artistischen Auftretens, die auch ‚Wiederholungstäter‘ im Publikum des faszinierten Schauens nicht müde werden lässt. Und diese Vielfalt war vielleicht noch nie so groß wie innerhalb der heuer gezeigten zwei Produktionen wie auch im Vergleich zwischen den beiden ganz allgemein. Zu erleben waren also zwei Sprachfamilien der performativen Kunst, deren ‚Einzelsprachen‘ die bunte Palette dieser körperimmanenten Ausdrucksformen sichtbar machten.
In „The Mirror“ wird (bühnen-) technisch wie vor allem auch thematisch weit ausgeholt; markant unterstützt von den elektronischen Musikkompositionen Ekrem Eli Phoenix. So wird in die entertainment-artig musikalisch erzählte Rahmenhandlung mehrfach auf den Zeitenfluss und die dadurch gegebenen Veränderungen subtil hingewiesen: Neben dem Anklingen-Lassen eines Metronoms ist es der kurzzeitige, spielerische Einsatz eines alten Kofferradios, der nostalgisch die ihm eigene (freilich beschränkte) Wahlmöglichkeit von Unterhaltung bewusst macht. Im Gegensatz dazu werden mehrfach und mit faszinierenden Effekten Bühnenvorhänge, die verdecken und enthüllen, eingesetzt: Das blitzlichtartige Überschwemmt-Werden von Sinneseindrücken, wie sie die Gegenwart prägt, manifestiert sich in dieser Form nachhaltig. Nicht zuletzt, weil derart Körper aus dem Nichts kurzzeitig über die Bühne fliegen oder im Irgendwo verschwinden; weil ‚ohne‘ Vorbereitung ein Dreier-Menschenturm auf der Bühne steht, kurz darauf ein anderer anderswo ins ‚schwarze Loch‘ fällt.
Ein roter inhaltlicher Faden ist in zahlreichen darstellerisch-akrobatischen Schattierungen der titelgebende Spiegel: Einer, den sich die Artisten selbst wie auch ihrer Schaustellkunst vorhalten; und einer, der das Publikum zu selbstkritischem Hinschauen anleiten will. Aufgezeigt und erzählt in ebenso humorvoll wie auch kläglich eitlen, von dramatisch wie ironisch skizzierten, kritischen Kurzszenen. Unterhaltungswünsche werden als Schönheitskampf oder Kleiderkult auf die Schaufel genommen. Zeitimmanente Selbstdarstellung, bei der Digitales, vulgo Selfie-Wahn, wie ‚reale‘ Präsentation (effektiv mittels LED-Wänden vorgeführt) mit Augenzwinkern hinterfragt wird, lassen schmunzeln oder doch auch nach-denken, was auch ganz allgemein für das (immer beängstigendere) Ineinanderfließen von Realität und seiner bearbeiteten Abbildung gilt. All das ist in dem eng getakteten Ablauf eingewoben und mit akrobatischen Hochleistungen bekömmlichst und in doppelter Weise atemberaubend schnell abgemischt.
Geradezu gegensätzlich ist die Erzählform derselben Gruppe in „10.000Hours“; zurückhaltend, aber durchaus wesentlich unterstützt vom Lichtdesign (Chris Petredis, Max Mackenzie) und der immer wieder spannenden Live-Musik (Nick Martyn).
Materialkisten sind es, die, neben ein paar kurz verwendeten PET-Flaschen, die einzigen Requisiten ausmachen.
Der „Rest“ sind neun Artistik-Virtuosen, die gut 60 Minuten hochkonzentriert und feinsinnig im Hochleitungstempo wie in Zeitlupe oder auch kurzzeitig verharrend über die Bühne fegen. Es ist eine Ode an die Körperbewegung, an den gemeinsamen Bewegungsfluss; oder, wie sie es beschreiben: „… ein Liebesbrief an den Körper…“. Und eine eben einem solchen eigene, liebevoll erfüllende Aufmerksamkeit ist während dieser Darbietung zu erleben und unter der eigenen Haut nachzuspüren. Um bei sprachlicher Bezugnahme zu bleiben, ist in diesem Fall das in künstlerischen Bereichen häufig zitierte „poetisch“ tatsächlich zutreffend. Man könnte auch sagen, die Artisten malen mit ihren Körpern Bewegungsbilder in den Raum, stellen in diesen fein ziselierte, bewegte Figuren, erzählen mit Gänsefeder kleine Geschichten. Und das, bei aller Konzentriertheit, mit einer aus dem Inneren strahlenden Freude am Tun.
Dass aber auch hier das Verspielte, der Spaß, ja (scheinbares) Chaos nicht fehlen, das zeugt von hoher dramaturgischer neben der choreografischen Kompetenz der Artisten.
Und es gelingt ihnen auch, überzeugend kreativ das Publikum einzubeziehen: Auf einem Art Flipchart soll die ausgewählte Zuseherin in Strichmännchen-Form, die von einem der Künstler gehaltene Pose aufzeichnen. Dieser wiederum macht das (nicht ganz realitätsnah) Dargestellte mit seinem Körper nach; Fortsetzung folgt mit zwei, drei und schließlich allen Artisten, die eine turmartige Figur bilden. Eine weitere faszinierende Interaktion besteht in der szenischen Umsetzung eines vom Publikum vorgegebenen Wortes wie etwa Känguru: Der Artist, zuvor in der Art von Street-Dance eine tänzerische Bewegungsexplosion auf die Bühne zauberte, zeigte damit sein feinnerviges Einfühlungs- und Umsetzungsvermögen in selten zu sehender Qualität. Enormer Applaus – ihm und am Ende allen dieses Ausnahmeteams, der in wenigen Sekunden vom gesamten Publikum stehend erklingt. Wundert es irgendjemanden?!
Gravity & Other Myths: “The Mirror” am 20. Dezember 2024, “10.000Hours” am 3. Jänner 2025 im Orpheum Graz im Rahmen von Cirque Noël.