Wie an zwei Füßen stehen zwei Schuhe hinten für das Zurücklassen und Aufgeben von Vertrautem und weisen in die Fremde und in eine ungewisse Zukunft. Und lassen an Berge von ihnen denken, die immer noch erinnern an deren einstige, vergaste BesitzerInnen. Samuel und Alma Feldhandler errichten mit „Soso“, das sie ihrer Großmutter widmen, ein poetisches choreografisch-musikalisch-bildnerisches Denk- und Mahnmal.
Das Bühnenbild von Alma Feldhandler – die Schwester des Choreografen ist bildende Künstlerin und lebt in Paris – ist einfach, unspektakulär, und doch, mit seinem metaphorischen Gehalt, seiner Poesie und im Zusammenspiel mit dem Licht von Victor Duran, von immenser Wirkung. Ihre kleinen, wie Aquarell-Zeichnungen anmutenden Objekte installierte sie hängend und ebenerdig verteilt. Zu Beginn, in völliger Stille, werden sie einzeln, mit langsam an- und abschwellendem Spotlight, wie Erinnerungen aus der Dunkelheit heraus herausgeschält und wieder in sie versenkt. Eine Küchenlampe, ein Erdatlas, ein hintereinander aufgestelltes Paar Schuhe, eine große Schleife/Masche, eine Mädchen-Bluse, eine Girlande aus kleinen Maschen vorn oben.
1933 in Frankreich als Tochter jüdisch-polnischer Eltern geboren, erlebte die „Soso“ genannte Großmutter Sonia (damals noch:) Krajsztajn der beiden Geschwister Alma und Samuel Feldhandler im Alter von fünf, sechs Jahren den Beginn des Zweiten Weltkrieges und die Einberufung ihres Vaters in den Kriegsdienst. Drei Jahre später wurde ihre Mutter verhaftet. Sonia überstand die dunklen Jahre versteckt in einer Schweizer Kleinstadt bis zur Wiedervereinigung mit ihren Eltern, beide haben den Krieg überlebt, im Jahre 1946. Vater und Mutter kehrten, so muss man vermuten, schwer traumatisiert zurück.
Judenhass und Weltenbrand, die Trennung von den Eltern, Exodus aus der Heimat, der bis dahin behüteten Kindheit, dem Frieden und der Gemeinschaft Gleichgesinnter erlebte Sonia als kleines Mädchen. Angst, Scham und Schuld und das Gefühl, nicht willkommen zu sein, weil von der Welt abgelehnt und den Eltern allein gelassen, treiben einen Menschen, und einen kleinen erst recht, in die innere Emigration und die Aufspaltung der Persönlichkeit in spezifische, separat leb- und schützbare Aspekte. Das Ziel: Die Gewährleistung des psychischen Überlebens. Das bildet die Basis für die in getanzte musikalische Strukturen übersetzte Lebens- (und Leidens-) Geschichte von Oma Feldhandler.
Der in Frankreich geborene und in Wien lebende Choreograf und Tänzer Samuel Feldhandler entstammt einer MusikerInnen-Familie. Seinem großen Interesse an einer Translation von Musik in Tanz folgend choreografierte/komponierte er für dieses Stück eine fünf-stimmige Fuge, getanzt von zwei Frauen und drei Männern: Lena Schattenberg, Stephanie Evrard, Mani Obeya, Yari Stilo und Samuel Feldhandler selbst.
Feldhandler ordnet in seiner Choreografie Reihen von gestischen Elementen zeitlich und räumlich zu verschiedenen, in der Fuge verwendeten Strukturen. Allein beginnend mit der Einführung des Themas (der „Dux“, getanzt von Lena Schattenberg), bald im Duett die „Comes“ (den Gefährten) hinzufügend (Stephanie Evrard), dann im Trio, viel später im Quartett und schließlich Quintett tanzen die fünf die gestischen Reihen als Kanon, Spiegelung, Inversion, parallel und auch mit einem „Kontrasubjekt“, mit neu hinzugefügtem gestischen Material also.
Vor allem Lena Schattenberg hat viel Arbeit übernommen. Und man meint, zu Recht. Ist sie doch, dicht gefolgt von Evrard und Obeya, die Ausdrucksstärkste. Doch es sind nur Nuancen im Niveau, dafür aber Welten im Habitus, die die fünf TänzerInnen voneinander unterscheiden. Und das hat guten Grund und starke Wirkung. Jede(r) der fünf darf er/sie selbst bleiben und wird so zum physischen Repräsentanten innerlich separierter geistig-psychischer Phänomene.
Die in dieser Arbeit ins Physische, in Tanz transformierten kompositorischen Strukturen werden zu Abbildern der Strukturen einer schwer traumatisierten, dissoziierten Seele. Das Verlassen-Werden von den Eltern kann man Kindern zwar erklären, die Worte aber helfen nicht gegen das Gefühl, dafür verantwortlich zu sein. Später tief ins Unbewusste verdrängte Schuldgefühle und eine in ihnen wurzelnde Melancholie werden zur Grundbefindlichkeit eines ganzen Lebens.
Und zum Anlass für die Abspaltung einzelner Aspekte. Nicht nur das sich schuldig fühlende Kind, wohl auch die Jüdin, die Polin, das kleine, um seine Kindheit betrogene Mädchen, das in der Fremde fremde, versteckte Kind tanzen hier miteinander. Durch ein ganzes Leben. Das Leiden an sich selbst und an den Gräueln, zu denen Menschen fähig sind, wird immer deutlicher. Die Struktur des Tanzes ist die Struktur von Musik ist die Struktur der Zeit ist die Struktur der Seele.
Der Sound von Paul Kotal stellt der getanzten Raum-Zeit-Partitur auf der Bühne eine akustische Resultierende, entstehend aus der mit dem Tanz abgebildeten veränderlichen Überlagerung von psychisch-seelischen Zuständen und Prozessen, zur Seite. Aus polyphoner Disharmonie und Arhythmik wächst kurz einmal Harmonisch-Melodisches. Die choreografisch-musikalische Dramaturgie des Stückes kann als Metapher für ein Leben gelesen werden.
Die fünf elektrisch angetriebenen und verstärkten Spieluhren, sie sehen nicht so aus, klingen jedoch mit ihren Bling-Bling sehr ähnlich, werden von meterlangen Lochstreifen aus Papier gesteuert. Sie laufen in der langen Schlusssequenz unabhängig voneinander parallel, erzeugen polyphones Metallzungen-Geklimper, ohne miteinander zu interagieren.
Sie spulen Programme ab, gehorchen vorgegebenen Mustern. Ein komplexes Bild für Menschen, die ihrer ihnen unbewussten psychischen Programmierung folgend ihre Zeit auf Erden nebeneinander her leben, für das Eigenleben verschiedener, nicht miteinander kommunizierender intrapsychischer Aspekte und, sich der Inspirationsquelle für dieses Stück nähernd, einer als Kind vor gewaltige emotionale Aufgaben gestellten Seele, die traumatisiert sucht nach Wegen, weiter existieren zu können.
Jeder Klang ist verstummt, alles Licht erloschen. Ein Suchscheinwerfer tastet sich durch das Dunkel und legt sein Licht auf drei kleine Figuren in der Ecke ganz vorn rechts. Vieles kann es heißen. Etwa wie drei von Krieg und Not, Zerstörung und Tod, Shoah, den anhaltenden und wieder aufflammenden Feindseligkeiten gegen sie in die Unscheinbarkeit, ja Unkenntlichkeit Getriebene versuchen, trotzdem zu leben.
Oder auch, wie die drei sich auf der anderen Seite dann, befreit von allem Physischen, endlich wirklich wieder finden. Und ebenso: Sonia Feldhandler lebte ein Leben lang ihre Kindheit fort und fand zur seelischen Integrität erst danach zurück. Nach dem Ende von allem. Nach ihrem Tod. „Soso“ ist eine wundervoll getanzte, klug komponierte, poetische Arbeit, deren - nicht gezielt herausgestellte - politische Dimension sie angesichts des seit Jahren erstarkenden Antisemitismus zu einer hoch dringlichen macht.
Samuel Feldhandler mit „Soso“, Uraufführung am 07. Februar 2025 im Tanzquartier Wien.