Pin It
Giselle2Allein schon die Besetzung der Nebenrollen ist hervorragend. Und über Madison Young in der Titelpartie lässt sich bei der Wiederaufnahme von Peter Wrights „Giselle“ nur schwärmen. Am Ende bräuchte Young bloß noch etwas Zauberstaub, um sich tatsächlich ganz in Luft aufzulösen. Osiel Gouneo – dem Vernehmen nach gesundheitlich angeschlagen – hat den männlichen Hauptpart des Albrecht an Jakob Feyferlik abgegeben. 
Dessen Rollendebüt war eigentlich erst für die zweite Vorstellung vorgesehen, dann mit Ksenia Shevtsova (München-Debüt in der Wright-Fassung) als Partnerin. Shevtsova gelingt es allerdings vier Tage später bei weitem nicht so glaubwürdig-drastisch all die starken Gefühle durch ihren Körper fließen zu lassen. Sie spielt Giselle, Young IST Giselle – mit Haut und Haar.

Vergleichbar schauspielerisch-intensiv und subtil ambivalent verkörpert Feyferlik den adligen Sprössling Albrecht, der aus bloßem Spaß am Flirten überaus charmant einem Bauernmädchen die Heirat verspricht. Als Wildhüter Hilarion Albrechts Betrug aufdeckt und Giselle klar wird, dass die ihr zuvor so großzügig zugetane Bathilde in Wahrheit Albrechts Verlobte ist, schlägt Feyferlik verlogen die Augen nieder. Er weicht Giselle abweisend aus. Erst als sie dem Wahnsinn verfällt und stirbt, überkommen ihn heftige Schuldgefühle. In ihrer natürlichen Herangehensweise ergänzen und befeuern sich Young und Feyferlik am Abend der Wiederaufnahme emotional ganz wunderbar. Besser kann ein Ballettpaar nicht harmonieren. Zudem erhalten sie musikalisch tragende und wunderbare Unterstützung durch das Bayerische Staatsorchester, dass – noch ein sehr erfreuliches Debüt – die energische ballettversierte englische Dirigentin Andrea Quinn leitet. 

Den dramatischen Teil der Handlung treibt erstmals Konstantin Ivkin (jüngst erst zum Halbsolisten ernannt) als Hilarion famos voran. Auch bei ihm wirkt jede Regung authentisch. Tänzerisch glänzen kann er – wie bislang nur selten – vor allem im zweiten Akt. Hier agiert er explosiv und ist konditionell – selbst von den Wilis, die es genau darauf anlegen – eigentlich nicht totzukriegen. Mit hohen Beinen in der Arabesque und martialischen Sprüngen durchpflügt er wiederholt die Formationen der rachsüchtigen weiblichen Naturgeister. Am Ende müssen diese ihn regelrecht abschleppen und in die Kulissen wegschubsen. Vor Kraft strotzt auch sein Gegenspieler Albrecht, nur eben wesentlich kontrollierter. Die Serie der berühmten „entrechat six“ zieht Feyferlik in beiden Aufführungen im höchsten Schwierigkeitsgrad durch: mit den Armen unten in einer perfekt ruhigen ersten Position und 36 sauberen weichen Landungen mit überkreuzten Beinen. Das hat man so in München ewig nicht gesehen.Giselle1

Drei Jahre nur hat das Bayerische Staatsballett den romantischen Klassiker von 1974 des mittlerweile 98-jährigen Londoners Wright in der sichtlich etwas angejahrten Ausstattung von Peter Farmer ruhen lassen. Nun ist er – fürwahr ein Aushängeschild der Kompanie – wieder zurück. Gleich die erste Vorstellung gerät zur Sternstunde. Es ist ein bravourösen Déjà-vu, das an den sensationellen Start des Ensembles 2016 in eine neue Ära erinnert – damals mit prominenten externen Gästen in den Hauptrollen. Die braucht es nun aber längst nicht mehr.

Seit den letzten Beförderungen nach „La Sylphide“ hat Ballettchef Laurent Hilaire vier Erste Solistinnen, sechs Erste Solisten, drei Solistinnen, einen Solisten und 14 Halbsolisten (sechs Frauen, acht Männer) unter Vertrag. Das sind 28 besttrainierte Spitzenkräfte, die in wechselnden Konstellationen locker auch wieder mehr Neukreationen stemmen könnten. Die aber fehlen derzeit und zunehmend schmerzlich im Programmprofil der technisch doch so profilierten Kompanie. Dem Ensemble ist zu wünschen, dass Hilaire bei der Präsentation der neuen Spielzeit am 16. März zumindest eine sensationelle Uraufführung aus dem Hut zaubern kann. Den Tänzern wäre es zu wünschen. 

Giselle3Nur zwei Tage vor der fulminanten Wiederaufnahme von „Giselle“ überzeugten etliche Rollenträger in einer Aufführung des modernen Mehrteilers „Duato/Skeels/Eyal“, der letztes Frühjahr ins Repertoire übernommen worden war. Madison Young und Osiel Gouneo in Duatos „White Darkness“ waren darunter. Ihren gemeinsamen Auftritt in „Giselle“ verhinderte nun leider die aktuelle Erkältungswelle. Eyals physisches Extremwerk „Autodance“ führte Solistin Carollina Bastos genauso großartig an wie sie als kaltherzig-gnadenlose Wilis-Königin Myrta am 9. Februar in „Giselle“ debütierte. Ihre Kollegin Elvina Ibraimova übernahm den exponierten gummiknochen-elastischen Solopart, bevor sie ihrerseits schon am übernächsten Tag wieder in die Spitzenschuhe schlüpfte und kerzengerade das Tottanzen der Männer befehligte. Die apokalyptische Kreation „Chasm“ von Skeels wiederzusehen, hatte den schönen Nebeneffekt, dass man erleben konnte, wie selbst eine mittelmäßig gute Choreografie dazugewinnt, wenn eine Gemeinschaft bestens aufeinander eingestimmter Tänzerinnen und Tänzer sich darin total und im Grunde völlig unwirklich-menschlich verausgabt.

Ins Auge fiel einmal mehr der hochgewachsene rothaarige Amerikaner Soren Sakadales. Exemplarisch unter den zielstrebigen Nachrückern mit enormen Potenzial nach oben hat er sich seit 2022 unglaublich fix vom schmalen Stipendiaten der Heinz-Bosl-Stiftung über den Zwischenstopp als Volontär im Bayerischen Junior Ballett zum ausdrucksstarken Gruppentänzer und zuletzt brillanten Einspringer (am 9. Februar in „Giselle“, Pas de six) entwickelt. Junge Leute wie ihn, die sich selbst- und stilsicher in klassischen wie zeitgenössischen Stücken zu behaupten wissen, braucht eine Kompanie der ersten Liga. Nur dann kann sie ihren Auftrag, qualitativ ausdifferenziert ein breites Repertoirespektrum abzudecken, erfolgreich erfüllen.

Nicht alle, die dem täglichen technischen Spagat zwischen Ballett und Moderne gewachsen sind, wollen bleiben. Leise Abschiede wie der von Eline Larrory nach nur zwei Spielzeiten reißen Löcher, die Ballettchef Laurent Hilaire bruchlos neu verfugen muss. Er – und mit ihm das Publikum – kann sich glücklich schätzen, dass eine Primaballerina wie Madison Young ihre Erfahrungen im zeitgenössischen Bereich weiter ausbauen will. In den letzten Vorstellungen des modernen Bestsellers „Schmetterling“ von Sol León/Paul Lightfoot wird sie Kristina Lind ersetzen, die seit Sommer beruflich neue Wege geht. Gerade wegen solcher Überraschungen will man sich diese tolle Kompanie immer wieder anschauen.

Bayerische Staatsballett: Wiederaufnahme von Peter Wrights „Giselle“ am 4. und am 6. Februar sowie von „Duato/Skeels/Eyal“ am 6. Februar im Münchner Nationaltheater