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Rage1Die zunehmende Polarisierung der Gesellschaft und ihre eigene Entfremdung von dieser machen sie wütend. Die in Israel geborene Wiener Choreografin und Tänzerin Daphna Horenczyk dringt mit ihrem hier uraufgeführten Stück „Rage“ durch die Oberflächen von Bildern, Worten, Reels und Posts. Mit einer komplexen, vielschichtigen Mischung aus Stilmitteln und Bildern begibt sie sich in die (Ab-) Gründe einer sich selbst deinstallierenden Gemeinschaft.

Flammen lodern auf der Leinwand, stürme biegen Palmen, sie stemmt sich gegen einen imaginären Wind, der ihr da oben auf der Bühne aus dem Publikum entgegen zu wehen scheint. Ihr Kostüm ist ein Flickenteppich, gleich einem pluralistischen Wirrwarr scheinbar gleichwertiger 

Meinungen und den Kriegen unterschiedlichster Überzeugungen, die in (auch „sozialen“) Medien und politischen Landschaften geführt werden. Sie legt später die bunte Jacke, den zusammengeschusterten Rock ab. Sie anerkennt ihre eigene Zerbrechlichkeit, ihre Orientierungs- und Ratlosigkeit, Verunsicherung und Angst. Sie entkleidet sich bidirektional: der eigenen Maskierungen und der Flutung von außen. Sie legt auch die hässliche Haken-Nase, Symbol eines zerstörerischen Selbstbildes, ab. Sie selbst wird ihr eigener Maßstab.Rage2

Mit dem infantilen Habitus, den sie sich gibt (sie redet gewinnend lächelnd mit elektronisch verwandelter Stimme wie ein niedliches Kind), beißt sie wütend und aggressiv in die Kultivierung von Defiziten. Das Fort- und Aus-Leben von in der Kindheit erfolgreichen Strategien zur Bedürfnis-Befriedigung kennzeichnet die sozialen Medien im Besonderen. Aufmerksamkeit, Anerkennung und Bestätigung, Liebe also in allen Formen („Bin ich nicht süß?“), werden auf Tik Tok und Co. auf hemmungs- und schamlose Weise eingefordert. Nicht bewusst, denn ihre Defizite sind den Bedürftigen nicht bewusst. Und die Follower (hier die dicht gedrängt Zuschauenden) lassen sich bereitwillig als seelische Masturbations-Vorlagen missbrauchen. Der große schwarze Dildo, mit dem sie lange fuchtelt, mag zudem für das vom grassierenden Exotismus erhoffte gesteigerte Befriedigungs-Potential stehen.

Das individuelle psychische Defizit als Ursache für Polarisierung und Spaltung auszumachen ist klug, es als Erfolgsfaktor einer Online-Kultur zu benennen ist folgerichtig, notwendig, mutig, es in den mannigfaltigen Spielarten seiner Kompensation zu ent-decken und auf künstlerische Weise zu bearbeiten, wie es Daphna Horenczyk in diesem 80-minütigen Stück gelingt, ist großartig. Ganz simpel trägt sie die Spaltung in die Masse: Sie klebt eine Trennlinie auf den Boden und weist dem Publikum zwei Seiten zu.

Rage3Die sozialen Medien und die digitale Welt im Allgemeinen sind ein so erfolgreiches Geschäftsmodell, weil sie neben den kompensatorischen Zwecken auch die Projektion innerer Spaltungen ins Außen ermöglichen. Oft im Schutz der Anonymität, damit bar jeder Verantwortung, und mit in der Menschheitsgeschichte bislang beispielloser Reichweite, so also mit maximaler reflexiver Wirksamkeit. Das Heilsversprechen der Vernetzung in der Online-Welt verkehrt sich in sein Gegenteil: Mit der Anzahl der „Freunde“ und „Follower“ steigt das Gefühl der Vereinsamung. Auf der Leinwand tanzen Skelette, synchron. Und keck, mit Hut.

Und sie geht noch weiter. Sie erlaubt sich die Hinterfragung des Kunstbetriebes in seinen tradierten Formen (ja, auch wenn heute schon genügend Kunstschaffende versuchen, eben diese mit ihren Arbeiten aufzubrechen), und die Infragestellung auch ihrer eigenen Person als Mensch und Künstlerin. Weil sie das Konstruktive an einer maximal möglichen Verunsicherung im Zusammenspiel mit der Rückführung auf sich selbst erkennt: Die psychisch grüne Wiese, unbeeinträchtigt von Überzeugungen und Glaubensgrundsätzen, als Baugrund mit höchsten Freiheitsgraden. Für Häuser und Brücken.Rage4

Wut ist das Gefühl, aus dem heraus Daphna Horenczyk dieses Stück machen musste. Wut ist nicht die Grundbefindlichkeit von „Rage“. Die gestaltet die Choreografin als einen Mix aus ihrer Verzweiflung über die Primitivität des Menschen, über seine Angst vor sich selbst, aus ätzender, beißender Ironie, subtil und gleichzeitig provokant unter die in großer Zahl Erschienenen – und damit teils Sicht Behindernden – gebracht, aus Aggression, Empowerment und Melancholie. 

Die Facetten der Frau auf der Bühne und im Saal, in den sie sich zwischenzeitlich begibt, sind vielgestaltig. Von der Einsamkeit und dem Sarkasmus enttäuschter, entmutigter Zeitgenossen zur Überzeugung, Widerstand leisten zu müssen, um am Ende aus melancholischer Zurückgezogenheit heraus ihre innere Wahrheit in die Welt zu hauchen. Das Stück ist eben auch eine Geschichte. Die von der Wahrnehmung einer Gefühlslage, der Analyse und der Bewusstwerdung von deren Ursachen, von der Beobachtung von Wirkungen im Innen und Außen und der Synthese von individuellen und gesellschaftlichen Lösungsansätzen. Und es ist die Geschichte eines individuellen Emanzipationsprozesses.

Rage5Horenczyk nützt fast alle Stilmittel, die die zeitgenössische Performance-Kunst so reich machen. Tanz, Theater, Performance, Video-Installation, gesprochener, geschriebener und gesungener Text, elektronischer Sound und Live-Musik, Kostüm, Lichtdesign (von Bruno Pocheron) und ein das klassische Frontal-Theater brechendes immersives Bühnen-Setting verschmilzt sie zu einem organischen Ganzen. Dass sie hierfür auch noch ein paar Akkorde auf der Gitarre und dem Tasten-Instrument zu spielen gelernt und bis auf das Licht alles in größtmöglicher Autonomie selbst entwickelt hat und performt, entspringt ihrem und repräsentiert ihr Grundgefühl: Einsamkeit.

Kunst soll Fragen stellen, keine Lösungen präsentieren. So oder ähnlich äußerten sich Sachverständige. Vielleicht ist der „Epilog“, mit dem Daphna Horenczyk dieses Stück beschließt, wie eine Frage formuliert: Wäre die Überwindung der Polarität nicht ein gewichtiger Beitrag für eine Überwindung der Polarisierungen und der Einsamkeit? In einem melancholischen Lied, zu dem sie sich selbst auf einem tragbaren Harmonium begleitet, zählt sie viele polare Paare auf und singt, dass sie es IST: dieses und jenes, jung-alt, heiß-kalt, richtig-falsch, ich-du.

„Rage“ ist ein aus tiefer Betroffenheit gewachsenes Plädoyer für das All-Eine in uns, das zu erkennen und zu leben Heilung bringen könnte in diese zerrissene Welt. Und sie zeigt uns einen „Baal Teshuva“, einen „Meister der Umkehr“, einen Menschen, der auf den rechten Pfad zurück gefunden hat, einen, der aus Erfahrung klug wurde und sich damit größere Achtung erwarb als ein weiterhin Abtrünniger. Sie setzt Werte gegen die Angst. Sie macht Hoffnung.

Daphna Horenczyk mit „Rage“ am 13. Febuar 2025 im WUK Wien.