Pin It

1LiquidLoftImmersion ist beinahe eine Mode geworden. Einbezogen zu sein, Teil einer künstlerischen Intervention zu werden, zielt auf eine nicht nur performative Beteiligung des Publikums. Dass wir alle inmitten einer von historisch-politischen Wiedergängern und hoch wirksamen Narkotika geprägten Zeit leben, zeigen die Wiener Tanz-Kompanie Liquid Loft und das Ensemble für Zeitgenössische Musik PHACE in ihrer anlässlich des 200. Geburtstages von Johann Strauß Sohn entstandenen Kooperation eindrücklich.

Das ehemalige „Gschwandtner“, der heutige Reaktor Wien, erlebte seine Blütezeit im 19. Jahrhundert als ein berühmtes Hernalser Vergnügungs-Etablissement. Bälle, Gesang und Konzerte lockten vor allem in den letzten beiden Dekaden die Menschen in diesen Prachtbau. Zu jener Zeit, 1892, komponierte Johann Strauß seinen 10-minütigen Walzer „Seid umschlungen, Millionen!“, inspiriert von Schillers „Ode an die Freude“ und Titel gebend für diese hier im Rahmen von „Johann Strauss 2025 Wien“ uraufgeführte Arbeit.

Formell und inhaltlich hineingegossen in den Reaktor mit seiner imposanten Säulenhalle, einem Kinosaal und einer ehemaligen Bibliothek (dem kleinsten der drei Räume) mit leeren Regalen und einer aufwärts (und wohin?) führenden Wendeltreppe haben die zwei Ensembles ihr gemeinsames, etwa 70-minütiges Stück. Dem Publikum tragen sie auf, sich frei in den drei gleichzeitig bespielten Räumen und in den jeweiligen, sich ständig verändernden Settings zu bewegen und somit aus räumlich und zeitlich partiellen Eindrücken ein individuelles, weil immer unvollständiges, Gesamtbild der Performance zu generieren.2LiquidLoft

Unter der künstlerischen Leitung von Chris Haring entstand eine „utopische Ballnacht“, wie Stefan Grissemann in seinem Begleittext formuliert. Und ebenso: „Die Zeit ist aus den Fugen.“ Beides, die damaligen, in Schillers Text und der Strauss'schen Komposition euphorisch formulierten, idealisierenden Träume von einer sich zum Besseren wandelnden Welt, und die Qualität der unsrigen Zeit mit ihren Krisen und Kriegen, fügen die Schöpfer dieser Arbeit zusammen und ineinander. Der Kitt dafür: Die europäische und Welt-Geschichte der letzten 130 Jahre.

3LiquidLoftUtensilien von inzwischen längst verstorbenen, imaginierten Besuchern von einst, glitzernde Kleidungsstücke, bunte Hemden, zierende Schals, Täschchen, Ketten und Schmuck, werden am Boden drapiert, ihr Arrangement oft verändert und an die Wände projiziert. Lebende Skulpturen in den Bildern, die PerformerInnen (sieben TänzerInnen und sieben MusikerInnen) stellen Körper und Instrumente in die Projektionen, und Fotos und Videos von vor vielen Jahrzehnten stattgefundenen Menschen-Ansammlungen an Wänden und Decken senden Historisches ins Heute. Sie lassen so die bewegte Geschichte des Gschwandtner durch die Halle geistern. 

Die Atmosphäre der Performance jedoch ist fern jeder Lustbarkeit. Die kühle, trotz aller Bewegung statische Ästhetik der Bilder und der Sound, ein Gemisch von elektronischen Klängen und live gespielten Instrumenten, setzen das Jetzt deutlich von einer untergegangenen Welt ab. Und bindet die historischen Situationen gleichzeitig politisch. Was damals bevorstand, scheint als Schatten auch heute über der Zeit zu liegen. Das Lichtdesign von Thomas Jelinek spart gehörig mit dem Gegenstand seines Handwerks.4LiquidLoft

Andreas Berger (Komposition und Soundkonzept) verschränkt elektronische und live gespielte Instrumental-Klänge zu einem faszinierend organischen, perfekten Ganzen. Er führt diese Performance mit seiner Musik durch die Zeit seit der Entstehung des Strauss'schen Walzers. Die damalige Jahrhundertwende mit ihren bald folgenden Revolutionen, der Erste Weltkrieg, die fundamentale Zerrüttung aller Werte durch diesen, spürbar vor allem auch in der Kunst der Zwischenkriegszeit, die Große Weltwirtschaftskrise und der aufkeimende Faschismus, der Zweite Weltkrieg und die Zeit des Wiederaufbaus danach, die seit Jahrzehnten sich wieder verschärfenden politischen, gesellschaftlichen und ökologischen Krisen, all das macht er im Zusammenspiel mit den meisterhaften Instrumentalisten des Ensemble PHACE hör- und spürbar. Wer jedoch eine Feier in der Seligkeit des Dreivierteltaktes erwartet hatte, wurde enttäuscht. 

5LiquidLoftIm Kino läuft „die Maschine“. Der Perkussionist Manuel Alcaraz Clemente reibt mit einer Bürste auf dem Fell einer Großen Trommel einen beständigen, im Hintergrund immer hörbaren Takt. Es ist der beunruhigende Klang jener geistigen und seelischen Mechaniken, die immer wieder Gleiches ermöglichen, in sich wandelnder Gestalt. Die Strukturen sind immer die selben. Ihre physischen und psychischen Manifestationen jedoch gaukeln mit ihren vielen Gesichtern Komplexität vor.

Ja, es gibt auch Andeutungen von Walzer. Paarweise nur kurz. Ansonsten vergnügen sich die PerformerInnen allein, sogar walzernd. Auch hier zeigen sie auf ein Merkmal der (Post-) Moderne: Die Vereinzelung, Vereinsamung und Entfremdung des Individuums von der Gesellschaft. Ganz im Gegensatz zu den vergemeinschafteten Amüsements des ausgehenden 19. Jahrhunderts, hier nur noch als Film über Decken und Wände geisternd. Krieg, Rezession, Weltwirtschaftskrise, wieder Krieg. Einzelne, in kleinen Projektionen wie aus der Masse herausgeschnittene Gesichter erzählen von Elend und Leid damals.

Aus den tänzerisch-performativen, musikalischen, video- und licht-technischen und textilen Fragmenten, hinein gearbeitet in dieses prunkvolle, geschichtsträchtige Gebäude, entsteht ein mit raumgreifender Metaphorik inszeniertes, konzentriertes Bild von Epochen und ihrem Nachhall in der Gegenwart, das mit seiner tiefen Melancholie Zukunft schon noch denken lässt. Deren Vision allerdings ist düster.6LiquidLoft

Umbrüche, Kriege, Armut, Leid, Neuanfänge und trotz alledem Zerstreuungen. Die Musik von Strauss überlebt das alles. Wohl auch das jetzt in seinem Werden beobachtbare globale Unheil. Am Ende sendet das Chello, gespielt von Roland Schueler (Geigenbauer und Cellist), einzelne, durch Pausen voneinander abgesetzte vierstimmige, harmonische Akkorde in die Stille. Nichts passiert mehr. Nur im Kino läuft noch ein Schwarz-Weiß-Film von Vergnügungen und Vergnügten.

Der warme, schöne Klang trifft im Innern auf das Wissen um die Ignoranz von aktuellen Entwicklungen und historischen Parallelen, auf den Nachhall der Geschichte und dunkle Vorahnungen. Und macht aus der so vielgestaltig narkotisierbaren Sorge um die zersplitterte Welt ein tief erschütterndes Gefühl.

Liquid Loft, PHACE und der Reaktor verschmelzen in „Seid umschlungen, Millionen!“ zu einer hoch brisanten, großartigen Arbeit voller historischer und Gegenwarts-Bezüge, musikalisch, tänzerisch, performativ und mit der dunklen Atmosphäre die Macht und Wirksamkeit der Vergnügungen relativierend und von einer von Liquid Loft bislang nicht gekannten emotionalen Gewalt. Die MusikerInnen von PHACE tragen Wesentliches dazu bei.

Liquid Loft und PHACE mit „Seid umschlungen, Millionen!“ am 04.03.2025 im Reaktor Wien.