“Fall / Orbo Novo” heißt der Abend am Musiktheater Linz. Ein schlichter Titel für eine künstlerische Sternstunde von vollendeter musikalisch-tänzerische Ästhetik, interpretiert von einem Ensemble, das über sich hinauszuwachsen scheint. Als wären die Tänzerinnen und Tänzer von Tanz Linz von der Muse Sidi Larbi Cherkaoui wachgeküsst worden, interpretieren sie seine Bewegungssprache sowie seine tanztheatralen Kreationen mit augenscheinlicher Leichtigkeit. Als würden die Musikerinnen und Musiker im Orchestergraben seine Komposition gerade erst entdecken, lassen sie Arvo Pärts fragile Tongespinste in den Raum aufsteigen, oder füllen ihn mit Szymon Brzóskas epischen Klangwelten.
“Fall”, das trifft in dieser Choreografie beide Bedeutungen des Wortes, das Fallen und die Jahreszeit. Wie Herbstblätter fegen die Tänzer*innen über die Bühne, lassen sich wie vom Wind wieder aufwirbeln, stoben auseinander um im nächsten Moment wieder zusammenzufinden. Die Unruhe der Elemente werden von der Bewegung der transparenten Vorhänge im Zusammenwirken mit subtilen Lichtstimmungen in Szene gesetzt (Bühne und Licht: Fabiana Piccoli).
Es ist ein Werk voll aufregender Pas de deux, raffinierter Soli und großartigen Gruppenmomenten. Dementsprechend agieren die Ensemblemitglieder von Tanz Linz sowie der Tanzakademie Linz, einerseits als harmonischer Tanzkörper, andererseits als individuelle und starke Künstlerpersönlichkeiten. Die Kostüme von Kimie Nakano in gedämpften Grün-, Blau- und Grautönen unterstreichen die Gruppendynamik und in keinem Moment vermisste man die Spitzenschuhe, in denen die Tänzerinnen des Ballet Flandern 2015 die Uraufführung tanzten.
Der hochmusikalische Choreograf weiß den Geist von Arvo Pärts mystisch klingender Musik einzufangen, ihn in die Tänzerkörper zu übersetzen und zu einer perfekten Synthese von überwältigender Schönheit zu führen. Pärts melodische Mehrdeutigkeit klingt unter der Leitung von Marc Reibel nahezu überirdisch, der nicht nur am Pult sondern auch als Solist am Klavier sitzt. Hier wird er kongenial von Tomasz Liebig an der Violine begleitet.
Eine ganz andere Seite von Cherkaouis künstlerischer Recherche wird in “Orbo Novo” verkörpert. Hier hat sich der Choreograf von dem Buch “My Stroke of Insight” der Neurowissenschaftlerin Jill Bolte Taylor inspirieren lassen, die darin ihre Erfahrung mit einem Schlaganfall beschreibt. Cherkaoui entwickelt daraus ein Stücke über Grenzen und Beschränkungen. Sie werden die in den mobilen Gitter-Strukturen (Bühnenbild: Alexander Dodge) immer wieder verschoben, erweitert oder verengt, verschwinden aber nie. Um sie herum entfaltet sich das Spiel um Wahrnehmung, Täuschung und veränderte Realitäten.
Der polnische Komponist Szymon Brzóska hat die für die Uraufführung 2009 (mit dem Cedar Lake Contemporary Ballet) kreierte Musik für Linz neu arrangiert und erweitert. Das Ergebnis ist eine pralle cineastische Klangkulisse, die perfekt zum Erzählmodus der Choreografie passt.
Hier verschmelzen Tanz, Text (in der für Cherkaoui typischen Text-Gestik-Choreografie) und Musik zu einer Collage, die psychische Zustände erforscht ohne ein Narrativ zu entwickeln. Das ist eine durchaus übliche und gängige Methode im zeitgenössischen Tanz, und doch ist es nicht immer leicht ihr zu folgen. Welche Ebene liest man nun um sich aus dem Überangebot an Sinneseindrücken seine eigene “Geschichte” zu basteln?
Gleichermaßen virtuos wie im ersten Stück und doch mit einer gänzlich anderen Qualität übersetzen die Tänzer*innen Cherkaouis Intentionen. Acacia Schachter, die für die Einstudierung des Programms zuständig war, hat die Ensemblemitglieder von Tanz Linz in zwei konträre Arbeiten eines Choreografen eingeführt, der mit jedem seiner Werke das Tor in eine neue Welt aufzustoßen vermag.
Brucknerorchester Linz / Tanz Linz: “Fall / Orbo Novo” von Sidi Larbi Cherkaoui. Premiere am 1. März 2025 im Musiktheater Linz, gesehene Vorstellung am 14. März, Weitere Vorstellungen: 2., 20., 25. April, 11., 31. Mai, 6., 16., 21. Juni, 1. Juli