Mit seinem zweiten immersiven Stück bricht Regisseur, Autor, Stückentwickler und Schauspieler Ernst Kurt Weigel seine bislang konsequent gepflegte Regel, einen Film und ein Theaterstück als Inspiration für seine Mash-Ups zu verwenden. Für diese seine neueste Arbeit waren die Persönlichkeitsprofile des österreichischen Filmregisseurs Franz Antel und der britischen Dramatikerin und Regisseurin Sarah Kane Anlass für eine analytische Betrachtung individueller und gesellschaftlicher Zustände.
Es ist ordentlich was los am Film-Set. So viel, dass man unmöglich alles mitbekommen, wahr- und aufnehmen kann. Christian Kohlhofer brilliert vom ersten, das Publikum gleich einbeziehenden Dreh an als die beschäftigtste der zu Vielen multiplizierten Figur des Franz mit frohgemut-nonchalanter, rassistisch-sexistischer, selbstgefälliger Widerwärtigkeit. Die insgesamt elf spielenden und auch tanzenden (Choreografie: Leonie Wahl) Mitglieder des Ensembles agieren geschlossen hochklassig.
Das OFF-Theater wird zu den OFF-Studios, in denen der Dreh von Filmszenen, Fernseh-Interviews, Vorsprechen, Film-Präsentation und die Arbeit in Maske und Schmäh-Werkstatt in circa zehn Räumen gleichzeitig stattfinden. Und selbst in einem Raum wird man mit mehr oder weniger vielen verteilt Agierenden, Video, Musik (von Rafael Wagner), Tourguides, sich (vorbei) bewegendem Publikum und mindestens akustischen Impressionen aus den Nachbarräumen konfrontiert.
Aber: Was hier nach Überforderung klingt, ist das Abbild einer mit ihrer Komplexität überfordernden Wirklichkeit. Damals, als Franz Antel seine anspruchsarmen Schmuddelfilme drehte, heute und jetzt hier im OFF-Theater kann man nur Teile einer viel größeren Gesamtheit erfassen. Das entstehende Bild muss unvollständig bleiben. Es taugt dennoch zu eindrücklichen Hinterlassenschaften in Geist und Herz. Pars pro toto.
Die Visuals von Evi Jägle, gezeigt an vielen Orten auf großer Leinwand und kleinem Monitor, beeindrucken nicht nur mit ihrer handwerklichen Meisterschaft. Jägles äußerst komplexe Video-Animationen tauchen mit historischen Bezügen, mutierten Naturräumen und -wesen und gestalt-fluiden, entstellten menschlichen Gesichtern (und vielem mehr) ein in die psychischen und ideologischen Deformationen, die das Unbewusste einer Gesellschaft und der sie bildenden Individuen prägen. Sie allein zeichnet ein beängstigendes Bild einer aus der Vergangenheit ungebremst in die Zukunft fließenden Wirklichkeit. Ihre Arbeit für sich lohnt schon den Besuch der Vorstellung. Großartig.
Es ist chaotisch, lebendig, skurril, witzig. Von Anfang an aber schwebt durch jeden Raum und jede Szene unübersehbar ein Geist, der heute mit einem Begriff markiert wird: „Me Too“. Weigel hetzt die Kerne von Antels frivolem Musikfilm „00 Sex am Wolfgangsee“ und Kanes „4.48 Psychose“ als Repräsentanten der psychischen Grundkonstitutionen der beiden aufeinander. Die depressive Kane führt in ihrem nur fünf Dramen und einen Kurzfilm umfassenden Werk folgerichtig vom Bürgerkrieg über den Krieg einer Familie, eines Paares, eines Individuums schließlich zum Krieg innerhalb des Bewusstseins. Mit impliziter Inversion dieser Kausalkette.
Somit schickt „006.AM.PSYCHOSEE“ zwei scheinbar höchst verschiedene, in ihrer zu Grunde liegenden Struktur jedoch verwandte Charaktere in den Ring. Beide leiden zeitlebens an dem Mangel an elterlicher, mütterlicher Liebe und Aufmerksamkeit und in Kindheit und Jugend erfahrener Unterdrückung und Diffamierung. Das daraus resultierende Gefühl des Nicht-Genügens wird zur Grundbefindlichkeit. Die gewählten kompensatorischen psychischen Mechanismen unterscheiden sich jedoch erheblich.
Antel flüchtet in Selbstüberhöhung als Narkotikum für seine nagenden Minderwertigkeitsgefühle, in eine aus Wut und Hass auf seine Mutter geborene Frauenfeindlichkeit und -verachtung, in Sex und exzessive Masturbation als Droge und Liebesersatz, in Anti-Kommunismus und -Semitismus und letztlich in einen bösartigen Narzissmus. Er war, lange vor „Me Too“, einer der vielen Harveys, die ungeschoren davonkamen. Mit katastrophalen Auswirkungen auf die Seelen der Frauen (Rina Juniku zum Beispiel geht so tief in das Erleben der missbrauchten Frau, dass einem die Augen feucht werden).
Kane hingegen wendet sich gegen sich selbst. Selbstzweifel, Angst, Scham und unerträgliche Schuldgefühle treiben sie in Selbst-Bestrafung, -Verletzung und schließlich in die Selbstzerstörung durch Suizid. Yvonne Brandstetter hat zu dieser Rolle, die sie auch in einem aufgezeichneten Kurzfilm spielt, eine große, überzeugende Nähe entwickelt, die die intellektuelle Potenz der mit köstlichem englischen Akzent sprechenden Sarah und die Tiefen dieser verletzten, zerrissenen Seele spürbar werden lassen.
Beide stehen beispielhaft für die praktisch unendliche Vielfalt an individuellen Werkzeugen zur Bewältigung tief eingegrabener Defizite. Und beide stehen für den fruchtbaren Boden, für die Rezeptoren, an die Populisten andocken mit geschickt unsere seelischen Bedürfnisse adressierenden Angeboten für die Herabsetzung Anderer, in transparente argumentative Mäntelchen gehüllt, Linderung versprechend, doch nur kurzzeitig und oberflächlich wirkend. Ob Andersdenkende oder -gläubige, ob anderer Herkunft oder Hautfarbe, ob in einer anderen sozialen Schicht oder in anderem geistigen und Bildungs-Niveau zu Hause: In ihnen gefundene Feindbilder werden dankbar akzeptiert. So entstehen soziale, gesellschaftliche, politische und ideologische Konflikte. So entsteht Krieg.
Die tief ins individuelle, kollektive und gesellschaftliche Unbewusste eingepflanzte Diskriminierung von Frauen erzeugt Depressionen bei Frauen, damals und psychisch vererbt bis heute, erzeugt Wut und Aggression, Widerstand, Auflehnung, Feminismus, Aktivismus. Heute scheinen wir weiter zu sein. Schaut man das Stück an und dann vor die Tür, wird klar, dass die Formen sich gewandelt haben und die Manifestationen subtiler daherkommen, weil das Patriarchat inzwischen geschickter und verdeckter regiert. Aber „Me Too“ zeigt, wie wenig sich seit Harvey Antel geändert hat.
Satirisch, beißend ironisch, witzig, dynamisch, lebendig, herausfordernd, bedrückend, erschütternd, ungeheuer dicht und immersiv im besten Sinne ist das Stück. In der Lautheit der Bilder steckt eine Subtilität, eine Feinheit in der Zeichnung der Persönlichkeiten, die aus umfänglichen Recherchen und aufwändiger Analyse des insbesondere zu Sarah Kane nur raren verfügbaren Materials - ihre fünf Dramen erlauben, mithin nur vermuteten, Rückschluss auf ihre psychische Grundkonstitution - entsteht.
Antel bediente Werte und Moralvorstellungen der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, die Sehnsucht nach heiler Welt und freudvollem Leben. Bis heute allerdings wirkt, was er mit immenser Reichweite in die Wohnzimmer sickern ließ: Erzpatriarchale Gesellschaftsstrukturen, selbstverständliche, unwidersprochen hingenommene Diskriminierung, Objektifizierung und Sexualisierung von Frauen und Rassismus in mannigfaltiger Gestalt. Und schier grenzenlose Selbstbeweihräucherung.
Das bernhard.ensemble agiert mit so viel Spielfreude wie Herzblut und emotionaler Wahrhaftigkeit, dass es einen amüsiert und gleichzeitig schaudert. „Hast du mich lieb, Mama? Ich hab' dich lieb!“, sagt Franz in den Armen Sarahs. Und die singt von heiler, ganzer und wertvoller Welt. „006.AM.PSYCHOSEE“ zeichnet auf großartige Weise das Psychogramm zweier Persönlichkeiten und einer Gesellschaft, deren Seinsweise von der des Einzelnen geprägt wird. Geheilt werden kann sie nur von innen, von unten, mit uns selbst beginnend. Denn Selbsthass wird zu Fremdenhass, Selbstzerstörung wird zu Krieg. Die Analyse für die Ursachen des Zustandes dieser Welt ist treffend.
Ernst Kurt Weigel und das.bernhard.ensemble mit „006.AM.PSYCHOSEE“ am 08. April 2025 im OFF-Theater Wien. Weitere Vorstellungen immer Di., Do., Fr. und Sa. bis 10. Mai 2025.