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3yws HolzingerNach Splattermovies, expressionistischem Tanz, Zirkus, Ballett und Oper hat nun das Genre Musical Florentina Holzingers Interesse geweckt. So wird in „A Year without Summer“ gesungen und getanzt, aber natürlich auch geliebt, gekotzt, geblutet, mehr oder weniger bekleidet. Eine typische Holzinger-Maschinentheater-Revue als feministisch-queere Melange aus Sigmund Freud, Frankensteins Monster und Krankenhaus-Albträumen.

Einer der heftigsten Vulkanausbrüche seit Menschen solche aufzeichnen, ereignete sich 1812 auf einer indonesischen Insel und hatte enorme globale Folgen für das Klima. Auch Europa erlebte „das Jahr ohne Sommer“, als das es in die Historie einging. Holzinger nimmt diesen Topos zum Ausgangspunkt, da Mary Shelley in jenem trüben Sommer am Genfer See inmitten einer sich Geschichten erzählenden Gruppe von Schriftstellerinnen zu ihrem Roman „Frankenstein“ inspiriert wurde, wie überliefert ist.42yws Holzinger

Auf der Bühne bedeutet das zu Beginn eine ziemlich lange Sequenz in nebeligem Trockeneis, in der alte und junge Frauen zu loungiger Musik durch die Szene tanzen, sich vielleicht auch etwas erzählen, aber hauptsächlich miteinander knutschen und sich schließlich in einer Orgie sexuell befriedigen, bis eine gewaltige, die Bühne einnehmende Skulptur aus Plastik aufgeblasen wird und den nackten, weiblichen Torso aus dem Gemälde „Der Ursprung der Welt“ von Gustave Courbet darstellt. Zwischen den Beinen versammeln sich Holzingers Frauen, gekleidet in neckisches Krankenschwester-Outfit wie am Sexy Kostümball, und nehmen Holzinger am gynäkologischen Stuhl in ihre Mitte zwecks einer Operation. Ihr Schenkel wird mit dem Skalpell bearbeitet, was natürlich per Video ins Großformat übertragen wird. Das Procedere stellt sich als Geburt heraus, nämlich eines Musicals.

19yws HolzingerUnd so gibt es einige Gesangsnummern, zum Glück von professionellen Sängerinnen intoniert und dazu Choreographien wie aus den amerikanischen Fifties. Rasch wird das Thema gewechselt, Mary Shelley verschwindet, schade eigentlich. Denn da hätte man ruhig mehr Feminismus verarbeiten können, war doch Shelleys Mutter eine der wichtigsten frühen Feministinnen, Mary Wollstonecraft Godwin. Sie schrieb 1792 „A Vindication of the Rights of Woman“.

Aber in Holzingers dramaturgischem Kosmos tritt nun eine andere Figur auf den Plan, Sigmund Freud. In witziger Kostümierung samt Zigarre hält er/sie einen wahrlich komischen Monolog über Freuds These des weiblichen Penisneids. Es ist die beste Szene des Stücks, die in Freuds Panikattacke zur Vagina dentata endet, die er vorgeblich endoskopisch erkennen kann, was natürlich auf der Videowall übertragen wird.26yws Holzinger

Weitere Motive: Der KZ-Arzt Mengele und der Rassentheoretiker der Nazis, George Cuvier. Irgendwann, nach weiteren Songs, ein Knall und dem Torso strömt die Luft aus. Die neue Szenerie ist atmosphärisch anders, denn jetzt geht es um Künstliche Intelligenz in Form von Roboterhunden, die sehr lebensnahe Bewegungen ausführen. Schließlich mengen sich Frauen unter die Hunde, was wohl bedeutet, dass die KI sich unter die Menschen mischt, Ausgang ungewiss.

Währenddessen darf auch die Artistik nicht fehlen, eine Kernkompetenz Holzingers, und so springen zwei Frauen von zwei Trampolinen auf ein Podest in großer Höhe, immer wieder. Wieder dabei ist auch die Body-Suspension-Akteurin, die sich gern in Holzingers Shows Nadeln durch die Haut treibt. Diesmal hat sie wahrlich einen großen Auftritt. Beim „Ultimativen Facelift“ darf sie an mehreren Nadeln im Gesicht buchstäblich hängen und als überdimensionierte Videoprojektion Schönheitsoperationen ad absurdum führen.

38yws HolzingerZum Showdown wandelt sich die Bühne in ein Mittelding aus Altenpflegestation, Krankenhaus und Eislaufplatz. Krankenschwestern hantieren emsig mit den in Betten liegenden alten Frauen. Sie legen diesen Tröpfe, Infusionsschläuche, Windeln an, bis unweigerlich das Fäkale raumgreifend wird. Durchfall überall, bis alle Frauen ständig mit schmerzverzerrtem Gesicht ihre Koliken durchleiden. Keine hereingeschobene Toilette kann hier noch helfen. Ein riesiger Schlauch verspritzt Mengen von brauner Flüssigkeit, bis alle durchtränkt sind. Gleichzeitig dreht hoch oben am Podest eine nackte Eiskunstläuferin ihre Runden und dreht Pirouetten, ein sehr schöner Anblick.

Am bizarren Ende der Song von Queen, „Who wants to live forever”, und der Applaus geht los. Keine Chance, ein klein wenig in sich nachzuspüren, denn augenblicklich brechen die schon inflationären Standing Ovations des enthusiasmierten Publikums über alles. Was hat die Leute eigentlich so begeistert? Die Nacktheit? Die Unterhaltsamkeit? Das Ungustiöse? Wahrscheinlich hängt es davon ab, welchen Erfahrungshintergrund man hat. Ob man etwa schon viel gesehen oder selten ins Theater geht, wie alt man ist, etc. 1yws Holzinger

53yws HolzingerResümee der Rezensentin: Holzingers Shows sind unterhaltsame Shows mit Längen, denn meistens dauert es zu lang. Mit Tanz hat es wenig zu tun, auch mit Performance nicht unbedingt. Von den früheren trashigen Shows gibt es eine Entwicklung zu aufwendiger Bühnentechnik; Holzinger ist ja auch ein hochsubventionierter Star der Berliner Volksbühne. Dramaturgisch gesehen bleibt das Revue-Prinzip dominant, die Szenen hängen nur lose verbunden aneinander. Die Themen sind interessant, doch mehr Tiefgang wäre wünschenswert, da manches doch sehr an der Oberfläche bleibt. Inszenatorisch gesehen erstaunt eher der Mangel an Inszenierung, da ist kaum etwas ästhetisch gestaltet. Aber positiv ist, dass Holzinger eine Art Ensemble oder Company geschaffen hat und die Frauen regelmäßig miteinander arbeiten. Da ist noch einiges möglich.

Florentina Holzinger: “A Year without Summer”, Premiere am 19. Juni im Volkstheater in Kooperation mit dem TQW, gesehene Vorstellung am 21. Juni.

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