Seit 1998 bewegt das Festival La Strada in Graz nicht nur Menschen aller Altersstufen und vielerlei Interessen, sondern auch zahlreiche, sommerlich unterschiedlich träge Orte der Stadt: Diese sind indoor und outdoor, immer wieder neu gefundene und damit auch unbekannte Perspektiven auf die Stadt (er)öffnende.
In diesem Jahr (aber nicht zum ersten Mal) ist es vor allem der seit kurzem teilweise bereits fertig bebaute, aber auch noch weiter gerade entstehende Stadtteil Reininghaus, der im Park des großen Areals mit Zirkuskunst und anderswo mit interaktiven Performances stärker ins Bewusstsein gerufen wird.
Dementsprechend ging es mit einem abwechslungsreichen (meteorologisch alias wechselhaften und tatsächlich so gearteten) Eröffnungswochenende los.
Cirque Le Roux: Überbordende Aufführungskunst
Die Eröffnungsvorstellung „Entre Chiens et Louves“ fand im ausverkauften Grazer Opernhaus statt. Auch dies nicht zum ersten Mal und mit den dort gegebenen technischen Möglichkeiten einem aktuellen Trend des Neuen Zirkus entsprechend, nämlich, sich zunehmend interdisziplinär zu definieren und zu präsentieren. Dies verstärkt den Einsatz von aufwändigem Bühnenbild und vielfältigen Kostümen sowie von Licht- und Projektionstechnik. Diese untermauern das spartenübergreifende Agieren der KünstlerInnen, das zusätzlich zu ihrem dominant akrobatischen Tun immer mehr auch Darstellerisch-Verbales, Tänzerisches, Gesang, Pantomime und Slapstickartiges integriert.
Die international überaus erfolgreiche französische Gruppe Cirque Le Roux performt darüber hinaus in einer filmschnittartigen Dramaturgie; und so ist sie es auch, der die ‚Erfindung‘, die ersten erfolgreichen Schritte im sogenannten Cinema Circus zugeschrieben werden. Sie, die anhand ihrer szenenreichen, bildgewaltigen, nahezu überbordenden Aufführungskunst zeitimmanente Themen visuell umzusetzen sucht.
Diesfalls rankt sich ein roter Faden um die Beziehung dreier Paare jeweils in einem der letzten drei Jahrhunderte. Einer, der von den acht Ausnahmekünstlern zwar nicht unbedingt immer ganz straff gehalten werden kann, der aber dank seiner emotionalen Allgemeingültigkeit, seiner Basisthemen des Gegen- und Miteinanders, und vor allem dank der atemberaubenden, innovativen akrobatischen Leistungen mitnimmt.
Die hohe Dynamik der 80-minütigen Vorführung kontrastiert sehr klug choreografisch scheinbar chaotische (tatsächlich ins kleinste Detail durchdachte und abgestimmte) Szenen mit solchen konzentrierter Bewegungskunst. In zwei tänzerisch-akrobatischen Pas de Deux, die die Annäherung zwischen zwei Frauen bzw. zwei Männern nachempfinden lassen, darf von berührender, ja poetischer Bewegungskunst gesprochen werden. Ein weiterer Höhepunkt stellt das Solo einer Künstlerin dar, um die ‚unsichtbare Männer‘ werben – so eine mögliche Interpretation: Deren Arme/Hände, die aus Löchern in der Wand ‚ranken‘, suchen diese, die ‚Begehrte‘ zu erhaschen, während sie dank dieser ‚Huldigungen‘ die Wand besteigt. Standing Ovation ist zuletzt die wenig überraschende Publikumsreaktion.
Cirque Pardi!: Humorvoll und emotional
Nahezu konträr zur oben erfahrenen Ästhetik: „Low Cost Paradise“ des unverwechselbaren Cirque Pardi!, ebenfalls aus Frankreich. Eine überaus charmante, humorvoll emotionale wie übermütig lebensfrohe Melange mit einem tiefernsten Schuss mahnender Bitterkeit.
Eingebettet in eine scheinbar traditionelle Zirkuswelt, also auch aufgeführt in einem Zelt dieser Art, wird vorweg der ‚klassische‘ Clown hinausgeworfen: Es handle sich hier ja um „Cirque Nouveau“! Gemeinsam mit dem noch vor dem Zelt wartenden Publikum fordert er mit diesem im Sprechchor und damit durch Solidarität gestärkt Einlass.
Der sich im Zeltinneren entwickelnde, eineinhalbstündige Szenenreigen fasziniert einerseits wiederum durch akrobatische Leistungen der höchst professionellen Art: auf dem fliegenden sowie dem hängenden Trapez, auf dem Fahrrad, auf dem Stahlseil, bei kreativ-atemnehmender Bodenakrobatik zweier Frauen…, sowie der ungewöhnlichen Art: etwa auf Rollschuhen oder bei der Jonglage mit bis zu drei Gitarren.
Andererseits wird der ‚klassische Clow“ der Szenenübergänge durch einen aus dem Publikum tretenden langhaarigen ‚Außenseiter‘ ersetzt, der nicht nur die hier gegebene Unterhaltung hinterfragt, sondern vor allem auch das fehlgeleitete gegenwärtige Geschehen auf dieser Welt und dessen himmelschreiende Ignoranz. Seine unverdrossene Aufmüpfigkeit, sein mehrmaliges Eingreifen und Hinweisen auf Missstände unterstreicht er ‚ganz nebenbei‘ durch akrobatisches Können, durch Formen des Streetdance. Slapstickartige Alltagsszenen einer Ehe, eine hinreißend kritisch konnotierte Pantomime des immer noch geltenden Frau-Seins/ Frauen-Bildes komplettieren dieses eigenwillig mitreißende Zelt-Geschehen, das so manchen Anklang an jenes in der Welt aufweist. Aufgezeigt mit wenig (technischem) Aufwand und aus der Perspektive derer, die trotz eines Daseins am Rande die Welt diese rücksichtsvoll zu schätzen wissen.
Eléctrico: Work in Progress
Zu den Intentionen des Festivals zählt neben dem perspektivenverändernden Vermitteln von Kunst das Wahrnehmen von Gegebenheiten; etwa von örtlichen wie dem Reininghaus- Arsenal, oder das bewusste Beachten von Alltäglichkeiten, von grundsätzlich bekannten Orten und damit zum Gewahr-Werden von und zur Kontaktaufnahme mit Unbeachtetem. Diese Facette soll wohl neben anderen „The Place“ von Eléctrico abdecken.
Sosehr Alina Stockinger (Idee, Dramaturgie, Regie und Performance) erfolgreich internationale Erfahrung mit vergleichbaren interaktiven und ortsspezifischen Performances hat, so gelang ihr dies in diesem Falle noch nicht gewohnt überzeugend. Die Performance ist allerdings auch noch ein ‚work in progress‘, steht also am Beginn einer Stück-Entwicklung, die durchaus wiederum gespannt sein lässt.
LA STRADA GRAZ 2025, 25.Juli bis 2.August