Als Pina Bausch 1978 “Kontakthof” uraufführte, war das eine tektonische Verschiebung im (Tanz-)Theater. Ein Tanzsaal, ein paar Stühle, Männer und Frauen im endlosen Ritual des Begehrens, der Annäherung, der Verlegenheit. Bausch legte das Nervensystem menschlicher Beziehungen offen – mit der Präzision einer Chirurgin und der Sanftheit einer Melancholikerin. Fast fünfzig Jahre später öffnet sich derselbe Saal erneut – diesmal unter der Regie von Meryl Tankard, Tänzerin der Originalbesetzung. “Kontakthof – Echoes of ’78” ist kein Remake, keine Wiederaufführung, sondern eine Begegnung: mit der Zeit, mit dem Körper, mit der Erinnerung.
Was Tankard hier unternimmt, ist weniger Rekonstruktion als Rückruf. Die Tänzer*innen von damals stehen wieder auf der Bühne – älter, verletzlicher, ruhiger. Der Körper, der einst das soziale Experiment verkörperte, ist nun selbst zum Archiv geworden. In jeder Geste schwingt das „Damals“ mit, wie ein Nachhall, der sich in die Gegenwart hineinschreibt. 
Die Bewegungen sind kleiner, aber gewichtiger. Ein Blick, eine zögernde Handbewegung – sie tragen die Schwere von Jahrzehnten. Wo einst Provokation herrschte, ist jetzt Zärtlichkeit. Wo Bausch das Spiel der Geschlechter sezierte, beobachtet Tankard das Spiel der Erinnerung.
Behutsam passt sie die Originalversion den veränderten Gegebenheiten an und belässt den Geruch der bundesdeutschen Nachkriegszeit, der sowohl das tänzerische Soziotop als auch die Texten der eingespielten Schlager durchdringt.
Die Bühne als Gedächtnisraum
Der Bühnenraum ist ein Palimpsest: Von den ursprünglich 20 Mitwirkenden sind neun der legendären Tänzer*innen (neben Tankard sind das Elisabeth Clarke, Josephine Ann Endicott, Lutz Förster, John Giffin, Ed Kortlandt, Beatrice Libonati, Anne Martin, und Arthur Rosenfeld) auf der Bühne. Auch in Abwesenheit bleiben die anderen ihre (nun imaginären) Partner*innen. Über ihnen flimmern Projektionen des Films der Uraufführung von Rolf Borzik wie Schatten aus der Vergangenheit: junge Körper, fließend, verführerisch, roh. Darunter die gealterten Körper als Gegenstimmen, die mit einer Vergangenheit tanzen, die bis heute noch leuchtet. 
Von der Analyse zur Empathie
Bauschs “Kontakthof” war ein scharfes Gesellschaftspanorama: ironisch, sezierend, bisweilen grausam. Das Lachen, das es auslöste, war nervös, abwehrend. Tankards Version ist weicher, wärmer – aber nicht harmlos. Sie zeigt, dass Verletzlichkeit auch eine Form der Kraft sein kann.
Das, was 1978 noch als Studie über Macht und Geschlecht wirkte, verwandelt sich nun in eine Studie über Erinnerung und Würde. Wenn die Tänzer*innen ihre ursprünglichen Rollen wieder aufnehmen, ist das keine Nostalgie, sondern ein stiller Triumph: ein Beweis dafür, dass Kunst altern darf – und gerade dadurch Tiefe gewinnt.
Ein Echo, das atmet
In der Gegenüberstellung zeigt sich die eigentliche Schönheit dieses Projekts: “Kontakthof 1978” war ein Blick nach außen – auf Gesellschaft, Rollen, Masken. “Echoes of ’78” ist ein Blick nach innen – auf Leben, Erfahrung, Verlust. Das eine provozierte, das andere tröstet.
Bauschs Original war revolutionär in seiner Unbarmherzigkeit. Tankards Rückkehr ist revolutionär in ihrer Milde. Beide aber teilen denselben Impuls: den Menschen im Tanz sichtbar zu machen – mit all seinen Brüchen, Eitelkeiten, Sehnsüchten.
Schlussakkord
Am Ende steht keine Pointe, kein kathartischer Schluss, sondern ein stilles Atmen. Ein Raum zwischen den Zeiten. “Kontakthof – Echoes of ’78” ist ein Tanz über das Altern, das Erinnern und das Loslassen – ein Requiem ohne Trauer, ein Wiedersehen ohne Illusion.
Wenn man den Saal verlässt, bleibt die Einsicht, dass unsere Körper – jung oder alt –, ein Echo tragen. Und dass in diesem Echo das eigentliche Leben tanzt.
Eine persönliche Erinnerung
Gerardo Wolf Perez, mein Mann, und ich haben “Kontakthof” das erste Mal Anfang der 1980er Jahre in London gesehen. Das Stück wurde Teil unserer gemeinsamen Geschichte. Und das war seine Gedanken über “Kontakthof – Echos of ‘78”:
“Für mich war ‘Kontakthof – Echoes of ‘78’ ein großartiges Erlebnis. Neurowissenschaftler sagen, das Gehirn sei keine Gedächtnismaschine, aber es schaffe Bedingungen, die Erinnerungen wecken. Das ist mir jetzt wichtig, da ich viel mit Bildern arbeite, sei es Malerei oder Schreiben. Es ist dann ein kleiner Strich, ein Licht, ein Klang, der mich zurückversetzt in die Momente, als ich dieses Werk zum ersten Mal sah, damals in den 1980er Jahren in London. Damals überkam mich ein Gefühl tiefgreifender Widersprüche: einerseits die Anziehungskraft dessen, was in diesem Setting geschah: schöne Menschen, die unbeschwert und charmant durch die Zeit glitten und einen zentralen Platz im Leben einnahmen, nur gelegentlich unterbrochen von hysterischen Katharsis-Attacken; und andererseits die Realität von Krieg, Schmerz und Brutalität, der ich als Lateinamerikaner täglich ausgesetzt war, in einem brutal gespaltenen Europa, wo täglich mehr und mehr Atomwaffen geparkt und angehäuft wurden. (Eine Realität, die niemand wahrnehmen wollte und bis heute nicht wahr haben will.)
So erinnere ich mich, wie wir schweigend nach Hause gingen, oder vielleicht habe ich unterwegs eine anarchistische Tirade losgetreten. Wer weiß … Dieses Mal habe ich es nicht getan.
Denn während die Gleichung, die das Paradoxon ausmacht, weiterhin besteht, sind die Bedingungen der Akzeptanz viel, viel umfassender, und das lag auch an der Arbeit der Schöpfer dieser Choreografie, einschließlich Pina. Eine Choreografie, die Abwesenheiten, Stille und das Grau der projizierten Bilder hervorhebt. Was auch Abwesenheit war, diesmal von Farbe.
Es erinnerte mich daran, dass Sartre in ‘Das Sein und das Nichts’ als Beispiel für das Gefühl des Nichts (wenn ich mich richtig erinnere, denn ich werde keine Zeit haben, es noch einmal zu lesen) die Tatsache anführt, an einem Ort anzukommen (es muss wohl ein Café gewesen sein), an dem man einen Freund findet, der nicht da ist. So einfach in purer Abwesenheit: ‘Nichts’. Ich könnte ihn suchen, ich könnte versuchen, eine Erklärung für seine Abwesenheit zu finden, aber im Absoluten des Jetzt ist es „Nichts“, visualisiert in den tanzenden Leeren, die wir sahen, wie sie sich über die Bühne bewegten und an jene unsichtbaren Menschen erinnerten, mit denen wir weiterhin in unserem Leben tanzen, ohne zu wissen, ob sie existieren oder ob wir sie nur erfunden haben, oder ob sie sich möglicherweise in anderen Entfernungen bewegen, mit anderen Stillen tanzen. Denn diesmal war die wahre Hysterie die Stille; die andere Hysterie war eine bloße Nachahmung dessen, was war, ein Simulakrum, wie Platon sagen würde, und das ist es, was für mich die heutige Welt charakterisiert. Die Verbindung zur Wahrheit ist abgebrochen. Doch das Simulakrum bleibt, was es ist: eine Täuschung der Seele.
So war meine Erfahrung im ‘Kontakthof – Echos of ‘78’”.
Pina Bausch. Meryl Tankard: “Kontakthof – Echos of ‘78” am 11. Oktober im Festspielhaus St. Pölten
