Aus zwei Jahrhunderten stammen die beiden Stücke, die das bayerische Staatsballett im Tanzquartier zeigen wird. „Biped“ von Merce Cunningham, fast ein Mythos, wurde 1999 uraufgeführt, „Unitxt“ von Richard Siegal, 2013. Dennoch gibt es Verbindungen zwischen den beiden Meistwerken, deshalb hat Intendant Ivan Liška sie für „sein“ Münchener Ensemble ausgesucht.
Zuerst die Musik. Carsten Nicolai, alias Alva Noto, Virtuose der elektronischen Klänge, hat sie komponiert. Aus Stampfen und Piepsen, Modemgeräuschen, Surren, Schrillen, Summen, Knacksen, gesprochenen Wörtern und 120 Beats pro Minute, alles im 4/4 Takt. Dann der Tanz. Zu dem fühlte sich Choreograf Richard Siegal gleich animiert. Tat das dann aber nur bei den Proben selbst, als er mit dem Bayerischen Staatsballett „Unitxt“ (könnte „Unit extended“ heißen, meint der Komponist zum gleichnamigen Album) einstudiert hat. Jetzt kommt die klassische Compagnie mit „Unitxt“ und einem der bekanntesten Werke des 2009 verstorbenen Meisterchoreografen Merce Cunningham, „Biped“, nach Wien.
„Exits and Entrances“, „Abtritte und Auftritte“, nennt Ballettdirektor Ivan Liška den Abend, „weil das die Struktur beider Choreografien“ ist. „Die Absenz der Narration“ eint für Liška beide Werke, die Auftragsproduktion des Forsythe-Tänzers Siegal und das 1999 uraufgeführte Werk des damals 80 jährigen Cunningham. „Nichts erzählen“, das war für Cunningham ein Grundprinzip. Damit keinerlei Beziehungen zwischen den Modulen einer Choreografie entstehen, verbot er Komponisten (am liebsten seinem Freund John Cage), Bühnenbildnern (gerne seinen Freund Robert Rauschenberg) und anderen kreativen Mitarbeitern miteinander zu kommunizieren. „Sie arbeiteten zusammen aber es war eine blinde Zusammenarbeit“, erinnert sich Robert Swinston, langjähriger Tänzer in der Merce Cunningham Company und später Cunninghams Assistent. Er hat „Biped“ mit der bayerischen Compagnie einstudiert. Eine neue Erfahrung für die klassisch ausgebildeten Tänzerinnen.
„Es war ausgesprochen fordernd, die Bewegungsverbindungen und das Raumbewusstsein zu entwickeln. Und das gilt für beide Werke des Abends. Aber es war nicht unmöglich.“ Das bayerische Staatsballett ist die erste Compagnie, die nach der Merce Cunningham Dance Company „Biped“ tanzt. Tanzen darf, die Mitglieder des das Werk des Tänzers und Choreografen verwaltenden Trusts, achten streng auf die Qualität einer Compagnie, bevor sie die Erlaubnis zur Aufführung eines Werks der Ikone der Choreographie erlauben. Auf Wunsch des 2009 verstorbenen Gründers der Merce Cunningham Dance Compagnie, sollte diese noch zwei Jahre auf Tourne gehen und sich dann auflösen. Wie Martin Schläpfer, der mit dem Ballett am Rhein, die Cunninghams Choreographie „Pond Way“ (zu einem Bild von Roy Liechtenstein) 2013 gezeigt hat, baut auch Ivan Liška auf seine TänzerInnen: „Sie sind mit vielen Tanzstilen vertraut und Neuem immer aufgeschlossen. Das Bayerische Staatsballett hat eines der umfangreichsten Repertoires, das man finden kann.“
Wie im Sog der wummernden Geräusche erscheinen die Tänzer und Tänzerinnen in exquisiten Kostümen, schwarze Korsagen, dunkle Hosen, semitransparente Shirts, unter dem über den Hintergrund laufenden Wort „Noise“ und kommen eiligen Schrittes nach vorn. Kaum legt „Unitxt“ los, bebt das Theater, ein Energiestrom bewegt die Menge, Schulter an Schulter gleiten die Einzelnen aneinander vorbei, Gedränge auf der Einkaufsstraße, kontrolliert, keine Kollisionen; Hüften schwingen und rollen, Beine klappen scherenartig auf und zusammen, Füße stampfen, Körper fliegen, kein Stillstand im rasanten Kommen und Gehen, Springen und Rennen der zwölf Tänzer/innen – Individuen in der Masse, der Beat gibt den Rhythmus vor.
Der Industriedesigner Konstantin Grcic hat die Kostüme für „Unitxt“ entworfen. „Mehr Objekte als Kostüme“ (Siegal). Die Hosen haben Haltegriffe, die Korsagen der Damen Gummibänder, an denen die Tänzerinnen vor- und zurückschnalzen und blitzschnelle Richtungsänderungen möglich machen. „Wie beeinflussen Materialien den Körper und die Bewegungsmöglichkeiten?“ wollten Grcic und Siegal wissen. Das Publikum wird es sehen, auch wenn es den vom aufwühlenden Klangteppich angetriebenen Bewegungen kaum folgen kann. Nicht zu übersehen, dass Siegal, geboren 1968, mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, sieben Jahre in William Forsythes Frankfurter Compagnie getanzt hat. Ob der Körper keine Grenzen hat und der Tanz allmählich an diese stößt? Liška verneint energisch: „Grenzen? Vielleicht im Sinne der Athletik, aber nie im Sinne der choreografischen Kreativität. Keineswegs!“. Liška, ebenfalls mehrfach preisgekrönt und Orden behängt, war selbst nahezu dreißig Jahre lang Tänzer und 20 Jahre lang viel geliebter Solist in John Neumeiers Hamburg Ballett. Die Gallionsfigur des „Modern Dance“, Merce Cunningham, hat er bereits im jugendlichen Alter in Prag gesehen. „Lebhaft“ erinnert er sich „an die Tänzeraktionen, Staffeleien, Wassereimer auf der Freiluftbühne.“ Davor war Cunningham mit seiner Company in Wien, suchte einen geeigneten Auftrittsort für sein Werk, fand das „Zwanzgerhaus“ (Museum des 20. Jahrhunderts) und schuf ein Ereignis, das einen besonderen Platz in der Tanzgeschichte einnimmt: „Museum Event N° 1“ von Merce Cunningham und John Cage. „Ein Ereignis, das einen besonderen Platz in der Tanzgeschichte einnimmt. Unter den zehn Performern waren neben Cunningham Größen wie Carolyn Brown, Viola Farber, Deborah Hay und Steve Paxton. Bis 2011 fanden weltweit mehr als 800 solcher - jeweils einzigartiger - "Events" statt.“, schreibt die Tanzhistorikern Gunhild Oberzaucher-Schüller in ihrem „Versuch eines Zeitzeugenberichts“.
Mehr als 35 Jahre später, als Cunningham mit seiner Compagnie im Rahmen von tanz2000.at zum letzten Mal in Wien war, wurde er in den Medien bereits als „Legende“ apostrophiert. Obgleich er im Volkstheater mit der MCD Company sein (damals) neuestes Stück zeigte: „Biped“, den Tanz der Zweibeiner. Kreiert mit dem „Motion Capture“ Verfahren am Computer, zeugt „Biped“ von Cunninghams Neugierde und unermüdlicher Suche nach „noch nie Gesehenem“. Tastsächlich ist „Biped“ immer wieder neu, Routine kann sich auch nach intensiven Proben nicht einschleichen. Lakonisch antwortet Liška auf die Frage wie es gelingt, Cunninghams Forderung nach der Alleatorik, dem Zufälligen, zu erfüllen: „Das Werk steht für sich. Es liegt an uns, es adäquat zu tanzen.“ Anders als der elektronische Klangraum in Siegals 25-Minuten-Stück, erklingt die Live-Musik in „Biped“ nahezu altmodisch digital. Komponist Gavin Bryars kommt auch nach Wien, um mit seinem Ensemble die Tänzerinnen zu begleiten. Auch er wusste lediglich, „dass das Stück 45 Minuten dauern wird“, Proben durfte er keine sehen. Die wurden auch in München ohne Musik abgehalten. Noch heute freut sich Bryars: „Alles passt zusammen, die Musik, die Bewegungen und auch das Licht.“ Dafür ist der mit Cunningham vertraute Designer Aaron Copp verantwortlich. Mit seinem Medium entwirft er einen magischen Raum, hell und dunkel, teilt die Bühne in wie zufällig erscheinende Quadrate und Streifen, lässt die Tänzer hinter Lichtvorhängen verschwinden, in ihren buntschillernden Kostümen aus dem Nichts blitzartig wieder auftauchen. Der Computer zaubert tanzenden Figuren, die als Schemen über die Bühne ziehen, die Tänzer verdoppeln, aber von ihnen nicht gesehen werden. Magie pur.
Solotänzerin Luisa Diáz González nennt „Biped“ einen „Intelligenz-Tanz“, weil so viele Bewegungen gleichzeitig ausgeführt werden müssen, „muss der Körper eng mit dem Intellekt verbunden sein und wir müssen ganz darauf konzentriert sein, was im Moment passiert.“ Ein technisch überaus schwieriges Stück und das Ende kommt überraschend. Zufällig eben.
Bayerisches Staatsballett: „Exits und Entrances“, Merce Cunningham / Richard Siegal. 1., 2.10. Tanzquartier Wien
Eine gekürzte Fassung dieses Textes ist am 19. September 2014 im "Schaufenster" der Tageszeitung "Die Presse" erschienen.