Bis Dezember steht das Programm im Tanzquartier fest. In Wien lebende Tänzerinnen und Performer und Gäste aus unterschiedlichen Weltgegenden bieten eine bewegte Abfolge von Solos, Duos und Gruppenauftritten. Auch in der Recherchearbeit in der Theorie, den Workshops und Trainingsprogrammen findet sich eine reiche Auswahl an Themen und Angeboten. Der Direktor, Walter Heun, freut sich und auch die kaufmännische Direktorin, Ulrike Heider-Lintschinger, will nicht klagen. Mit einer Auslastung von 80 Prozent der Performances in der vergangenen Saison ist sie zufrieden.
Die Thronrede war bewegend. Hatte sich Walter Heun in den vergangenen Jahren vor allem an das Publikum gewandt und ein „offenes Haus“ versprochen – und gehalten, so wandte er sich diesmal eher an das Team. Doch alle durften die goldenen Worte hören.
Von der Verantwortung, der sich alle bewusst seien, oder bewusst sein müssten; lustvoll, präzise, entspannt, stringent und genau soll das Handeln sein und sich auch im Produktionsprozess widerspiegeln. „Das Ethische" ist Heun (und dem gesamten Team) wichtig. Es geht nicht um Moral sondern um eine (gesellschafts-)politische Grundhaltung. Schön.
Ernsthaft. Das Tanzquartier will Motor der Tanz- und Performance-Szene in ganz Österreich sein und ist es auch bereits. Mit den zahlreichen Kooperationspartnern, dem Förderprogramm „INTPA“ (Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten/ BMeiA sowie Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur / BMUKK) und dem internationalen, EU-geförderten Projekt Modul-Dance (mit 22 europäischen Tanzhäusern) werden Produktion, Gastspiele und Residencys gefördert. Vermittlungsarbeit, theoretische Labors und praktische Hilfe (zusehen, zuhören, aber keine Dikat und ohne künstlerische Vorschriften) sollen Tänzerinnen, Performer und Choreografinnen unterstützen.
Und das Publikum? Dem steht ein intensiver Herbst bevor.
Die meiste Neugier wird wohl das Gastspiel der israelischen Batsheva Dance Company anlocken. Deshalb wird auch die große Halle E geöffnet. Die 1964 von Baronesse Batsheva de Rothschild († 1999) und Martha Graham († 1991) gegründete Company wird seit mehr als 20 Jahren von Ohad Narin geleitet. Mit „Sadeh21“ ( Feld21“) zeigt er in einem mit der Truppe erarbeiteten Stück (auf dem leeren Feld der Bühne) einen Fluss von getanzten Bildern und menschlichen Emotionen zur Musik von Brian Eno, dem Cellisten David Darling und anderen Komponisten. Der Abend ist Noa Eshkol (†2007), der Schöpferin der Eshkol-Wachmann Movement Notation, gewidmet. „Sensibel, aufregend, auch humorvoll“ urteilen die Kritikerinnen, „eine Huldigung an den Tanz“ verspricht die Vorschau. (4. und 5. Oktober 2013, Tanzquartier)
Das gesamte Herbstprogramm lässt sich auf der Website des Tanzquartier nachlesen, deshalb es sei erlaubt, das hervorzuheben, was dem persönlichen Geschmack entspricht.
Passagen, Passagiere. Da soll zuerst und vor allem Milli Bitterli genannt werden, die am letzten Abend von "Passagen, Passagiere" in der Durchfahrt vor dem Tanzquartier-Studioeingang im Museumsquartier ihre wunderbare Performance aus dem Langzeitprojekt „Was bleibt?“ zeigt. (24. 9. 2013, 19.30 und 20.30 Uhr). Ein Gegensatz zur mutigen und auch besinnlichen Darbietung von Bitterli könnte die Arbeit der Marokkanerin Bouchra Quizguen sein. „Madame Plaza“, nach einem berühmten Kabarett-Etablissement in Marrakesch nennt die Choreografin den Auftritt von der „drei Shikhats“, Unterhaltungs-Künstlernnen, die in Marokko zugleich bewundert und und abgelehnt werden. Sinnliche Bewegungen, kräftige Stimmen, zur Schau gestellte Körper – das will jeder (Mann) sehen. Aber die Zurschaustellung des Intimlebens, die Überschreitung gesellschaftlicher Normen? Pfui, doch. (11. und 12. Oktober 2013, Halle G)
Danach Kluges, Durchdachtes, aber auch Sinnliches: Anne Juren und Roland Rauschmeier haben Kafka gelesen und Martin Kippenberger betrachtet. Und nun wird der unvollendete Roman „Amerika“ und die Installation dazu („The Happy End of Franz Kafka’s Amerika“, 1994) tatsächlich einem glücklichen Ende zu geführt. Mit Juren tanzen Laia Fabre, Deborah Hazler, Rotraud Kern und David Subal. Die Bühne hat Roland Rauschmeier gestaltet. Ein spannendes Projekt, das beim steirischen herbst seine Uraufführung erleben wird. (25., 26. Oktober)
Kooperation mit Wien modern. „Democracy“, der Mittelteil einer auf mehrere Jahre als Work in progress angelegten Arbeit, „To Bang on a Can“ der Choreografin Maud Le Pladec. Die Amerikanerin Julia Wolfe und der italienische Organist Francesco Filidei haben die unterschiedliche Musik komponiert, fünf TänzerInnen bewegen sich zu den live gespielten Noten. Produziert wurde dieser zweite wie auch der erste Teil von „Democracy" für das Festival „Mettre en Scène“ in der bretonischen Stadt Rennes, wo die Premiere am 13. November stattfinden wird. WienerInnen sind der Zeit voraus und sehen „Democracy (Work in progress)" dank der Kooperation von Tanzquartier und WiEN MODERN bereits am 30. oder 31. September in der Halle G.
Nicht nur Gastspiele – noch ein letztes sei erwähnt: Jefta van Dinther, der für das Cullberg Ballett „Plateau Effect“ kreiert hat, zeigt die österreichische Erstaufführung der brandneuen Choreografie am 15. und 16. November In der Halle G. „Neun TänzerInnen bauen wundersame Welten auf der Bühne und verführen und täuschen unsere Sinne“, freuten sich die Kritikerinnen nach der Uraufführung im Sommer und wähnen sich im halluzinatorischen Kino –, auch heimische und in Österreich lebende Künstlerinnen und Künstler zeigen Neues, Sehenswertes, Unterhaltendes. Auf dem Menü stehen, Agata Maskiewicz, die Agnieszka Dmohowska Slawiec und Karen Karen Lambæk „Duel“ tanzen lässt, Das Duo Navaridas & Deutinger (Mitglieder von The Loose Collective) bringen neben zwei lebensgroßen Puppen auch ihre Texte in die Studios des Tanzquartiers und lassen die Zuschauerinnen über Manipulation und Widerstand nachdenken; Philipp Gehmacher kommt mit einer Uraufführung (Arbeitstitel: „the gesture, the space, your words, my grey“) in die Halle G und öffnet seinen Schauraum „grauraum“ und führt selbst durch eine Ausstellung (Motto: Verbindung von bildender zu darstellender Kunst); nach vielen anderen zeigen auch Liquid Loft /Chris Haring und Michel Blazy Neue Pflanzen oder Pflänzchen aus dem „Perfect Garden“. Im Garten geht es um das Werden und Sterben, um den Genuss des Augenblicks und das Festhalten des ach so schönen Augenblicks. Natürlich wird auch Stephanie Cumming im Garten tanzen und möglicherweise auch sirenengleich singen.
Weg von der Bühnenpraxis, zurück in die Tanzquartier–Studios, wo sich die Redereihe (gehalten von Theoretikerinnen und ausübenden Künslerinnen) mit, kurz gesagt, "Der Kunst des Müßiggangs" befassen wird. Müßiggang, oder Keyif wie man in Istanbul sagt, um dem Alltag das Leben abzuringen, ist nicht nützlich und kann dennoch die Bedingung für Kreativität du Produktivität sein. So als würde die Redereihe nur aus genüsslichem Liegen in der Hängematte bestehen, „da liegt man dann und schaukelt und blinzelt und schnurrt.“ (Die Informationen habe ich von Kai Strittmatter bekommen, der im Piper-Verlag „Gebrauchsanweisungen für Istanbul“ gegeben hat. Vom Motto der herbstlichen Redereihe im Tanzquartier hat er noch nichts gewusst.) Danach ist wieder eine Publikation der „Scores“ fertig. Und siehe da, sie erscheint nicht nur als Eigenproduktion des Tanzquartier sondern wird in Kooperation mit dem Berliner Magazin „Theater der Zeit“ auch über die Grenzen Österreichs hinaus Wissbegierige erreichen. Das Rechercheformat („Teil der intensiven Auseinandersetzung des Hause mit dem Choregorafischen“, Heun) sorgt für die mehrfach beschworene Nachhaltigkeit und wird als monatliche Beilage in der genannten Zeitschrift erscheinen. Im Septemberheft ist nach der programmatischen Begrüßungserklärung des für Theorie zuständigen Teams die „Analyse des Videos von der Kunstaktion von Pussy Riot in der Christ-Erlöser-Kathedrale , Moskau, 21. Februar 2012“ geplant. Plastisch und praktisch und nur im gedanklichen Vorfeld theorielastig.
So anregend und aufregend wird dieser Herbst im Tanzquartier, für die Nährenden ebenso wie für die Genährten.
Erfreulicher Nachtrag: Eben wurde bekannt, dass der Theaterland-Preis 2013 des bestOFFstyria-Festivals dem Loose Collective für die Produktion „The Old Testament According To The Losse Collective“ verliehen worden ist.
Vorstellung des Herbstprogramms im Tanzquartier, 17. September 2013,