Uraufführung. Ashley Page und Antony MCDonald lassen Wiener Künstler des beginnenden 20. Jahrhunderts auf der Volksopernbühne "Einen Reigen" tanzen. Angelehnt an Arthur Schnitzlers Drama treten historische Persönlichkeiten auf und tanzen zwischen zwei Kriegen auf dem Vulkan. Das gesamte Ensemble des Wiener Staatsballetts dreht sich auf dem erotischen Ringelspiel.
Ein scheinbar fröhliches Völkchen, diese Dichter und Maler, Komponisten und Essayisten, die man im Salon der Bertha Zuckerkandl oder im Café Central trifft. Künstler eben, die da samt ihren Musen und süßen Mädeln im Kreis tanzen, sich immer wieder neu paaren und nicht sehen, dass der Tod mit ihnen tanzt. Kräfteraubend und abwechslungsreich ist dieser unaufhörliche Reigen, den der Choreograf Ashley Page mit dem Wiener Staatsballett an der Volksoper inszeniert. In den komplizierten Verwicklungen und Verknotungen der Gliedmaßen, in den abrupten Hebefiguren und überstreckten Armen und Beinen, im Tanz auf extremer Spitze, kommt der Geist jener Zeit zum Ausdruck, die es Page und seinem Ausstatter Antony McDonald angetan hat: Der Beginn des 20. Jahrhunderts in Wien.
„Diese Zeit hat ein unglaubliches künstlerisches Potenzial hervorgebracht, die Heroen der Moderne haben sich hier versammelt. Und sie waren alle irgendwie mit einander verbandelt, samt den Frauen. In dieser Kette haben sich immer wieder kleine Ringe gebildet, dann ist der Kreis aufgebrochen und ein neuer Ring ist entstanden. Das passt doch wunderbar zu Wien mit der berühmten Ringstraße und im Hintergrund dreht sich das Riesenrad.“ Der britische Choreograf und ehemalige Principal Dancer des Londoner Royal Ballet, ist zum Fan von Wien und des Wiener Fin de siècle geworden. Nachdem er die Balletteinlagen für die beiden jüngsten Wiener Neujahrskonzerte (2013, 2014) choreografiert hat, fühlt er sich im Ballettsaal und auf der Ringstraße, im Café und im Palais schon richtig zu Hause. Als Manuel Legris ein Ballett zu einem Wiener Thema vorschlug, konnte er Page und auch Ausstatter McDonald sofort begeistern. „Wir hatten nicht gleich einen Plan, zuerst dachten wir an ,Geschichten aus dem Wienerwald’ oder etwas Ähnliches, dann haben wir uns auf die Zeit des beginnenden 20. Jahrhunderts konzentriert, weil damals in Wien eine unvergleichliche Kreativität vorhanden war. Diese Künstler haben das ganze kommende Jahrhundert geprägt. Auf einmal begann ein Reigen in mir zu tanzen und wir waren bei Schnitzlers Stück angelangt. Doch da kommen nur zehn Personen vor, Legris wollte aber gern möglichst viele Tänzer auf der Bühne sehen. Die Herausforderung bestand also darin, dieses Schnitzler-Stück zu vergrößern. Da hatte Antony (McDonald) die geniale Idee, eine Art Porträt jener Zeit und der damals wirkenden Menschen zu machen. Als wir daran gingen diese Leute und ihre Verbindungen genauer zu betrachten, sahen wir, dass dieser amouröse Reigen tatsächlich getanzt worden ist, im realen Leben von realen Personen.“
Pages Karriere als Choreograf ist nahezu gleich lang wie die als Tänzer. Im selben Jahr als er zum Principal Dancer des Royal Ballets ernannt wurde hat er auch seine erste Choreografie abgeliefert. „Ich hatte schon davor einige kleine Stücke mit zeitgenössischen Tänzern und auch mit meinen Kollegen gemacht. Ich wollte die Disziplinen mischen, aber dann erkannte ich, dass ich durch diesen Mischmasch beides verlieren würde, die Klassik und den modernen Tanz. Man kann schon beides nebeneinander choreografieren, aber man muss dem Ganzen Struktur und Form geben. Plötzlich ging in meinem Kopf ein Licht an. Ich hatte tatsächlich eine Erleuchtung. An den Tag, als ich fühlte, jetzt weiß ich was zu tun ist, erinnere ich mich noch genau. Und jetzt ist meine Tanzsprache, die von Ashley Page.“ Eine neue Tanzsprache? „Das würde ich gerne hören! Doch ich bin nicht der Einzige, der so arbeitet. Ich choreografiere seit 30 Jahren, da entwickelt sich ein individuelles, wieder erkennbares Vokabular.“
Für „Einen Reigen“ entwickelt er für jede Figur (gemeinsam mit den RollenträgerInnen) eine eigenes Bewegungsmaterial, das von akribisch ausgewählter Musik unterstützt wird. So tanzen sie alle an, die wir schon so lange kennen, Gustav Mahler mit Alma Schindler, Egon Schiele mit Wally Neuziehl, Das Ehepaar Arnold und Mathilde Schönberg und der unglückliche Richard Gerstl als Eindringling. Abgesehen von den anonymen Gästen im Salon der Berta Zuckerkandl, im Café Central, bei Festen und auf der Straße – Studenten, „süße junge Dinger“, Damen der Gesellschaft, Gentlemen und Personal –, lässt Page mehr als ein Dutzend Prominente den frivolen Reigen tanzen. „Aber es wird keine Geschichtssunde und auch keine fortlaufende Geschichte, ich denke eher an den Film ,Eyes wide shut’, den Stanley Kubrick nach Schnitzlers ,Traumnovelle’ gedreht hat. Schnitzler hat sehr viel von der menschlichen Psyche verstanden und war auch mit Freud in Kontakt. So beruht der Kern des Balletts auf Fakten, doch als Mantel ist der Traum / das Träumerische herum gewickelt. Uns geht es mehr um Atmosphäre als um reale Details.“ So basieren McDonalds Bühnenbilder auf Malereien der Zeit und Wiener Ansichten und Page nahm die Notenblätter damals lebender Komponisten für den musikalischen Teil des Balletts. Belá Fischer hat Gustav Mahler und Erich Wolfgang Korngold, Alban Berg, Alexander Zemlinsky und Alban Berg zu einem musikalischen Reigen verschmolzen und die Zwischenstücke komponiert. Gerrit Prießnitz dirigiert das Volksopernorchester.
Der Tod tanzt mit. Page ist nicht der Erste der sich in einem vom klassischen Vokabular ausgehenden Ballett mit Schnitzlers frivolem Ringelspiel befasst. So hat Susanne Kirnbauer als Ballettdirektorin an der Volksoper 1988 für die Wiener Festwochen das Ballett „Arthur Schnitzler und sein Reigen“ geschaffen. Ein Jahr davor hat der amerikanische Choreograf Glen Tetley († 2007) zu Korngold Musik das einaktige Ballett „La Ronde“ in Toronto mit großem Erfolg uraufgeführt. Tetley hat sich allerdings weniger auf die Bettgeschichten konzentriert als auf die tänzerischen Möglichkeiten des klassischen Pas de deux. Auch wenn die Damen, Musen und Mädels in Pages zweiaktigem Ballett Spitzenschuhe tragen, ist seine Tanzsprache diesmal näher dem affektiven Expressionismus als der noblen klassischen Haltung. Nobel bleibt das Staatsballett dennoch. Eros und Thanatos, kleiner und großer Tod, finden hinter den Kulissen statt. „Sie rollen nicht im Bett herum. Wir tanzen keinen Porno. Aber das Thema ist da.“ Am Ende dreht sich alles im Walzertakt, Freud und Tod (zugleich Arthur Schnitzler) tanzen mit auf dem Maskenball. Walzerseligkeit kommt nicht auf. Page hat für das große Finale Maurice Ravels „La Valse“ ausgesucht: „1920 geschrieben. Er hat einen Strauss-Walzer genommen und ihn abgedunkelt. Heute klingt ,La Valse’ oft so romantisch, Hollywood-like, doch es ist der Abgesang auf eine Ära, nahezu makaber.“ Der Schöpfer weiß was seine Figuren nicht ahnen: Bald gibt es wieder Krieg.
Ashly Page /Antony McDonald: „Ein Reigen“, Ballett in zwei Akten. Uraufführung am 29.April 2014, Wiener Staatsballett in der Volksoper.
Weitere Vorstellungen: 2., 26.5; 5., 20., 26., 29. Juni 2014.
Der Artikel ist in gekürzter Form am 23. April im "Schaufenster" der Tageszeitung "Die Presse" erschienen.