Luigi Bonino als rüstig zu bezeichnen, wäre eine Untertreibung. Wenn es darauf ankommt, springt der aus Bra im norditalienischen Piemont stammende Ballettmeister auf und macht den jungen Tänzern Beine. Eine Herzensangelegenheit, dass es ihm dabei stets um die Arbeit eines einzigen Choreografen geht: Roland Petit, dessen „Coppélia“ er als erste Saisonpremiere in München mit dem Bayerischen Staatsballett einstudiert hat.
Bei uns bislang eher ein Unbekannter, sieht man von kurzen Solobruchstücken ab, die Boninos langjähriger Ex-Kollege und ebenfalls ausgewiesener Petit-Kenner Jan Broeckx – seit 2010 Leiter der Ballett-Akademie München – bereits im vergangenen Schuljahr seinen Studenten beibrachte. Und 2009 war Broeckx es, der die Übernahme von Petits witziger Revue-Ballett am Essener Aalto-Theater betreute.
Nun findet mit „Coppélia“ erstmals ein Werk des berühmten Franzosen Eingang ins Münchner Repertoire. Es ist ein amüsantes, familientaugliches Stück, das klassische Virtuosität mit jazzigen Elementen sowie Petits stilistisch vorbehaltlosem Faible für Showbiz-Qualitäten und Music-Hall-Produktionen aufs Beste verbindet. Die Handlung basiert auf E.T.A. Hoffmanns Erzählung „Der Sandmann“ und wurde erstmals 1870 in Paris uraufgeführt. Die Musik schrieb der damals 34-jährige Léo Delibes, dem damit der Durchbruch als Komponist gelang.
Guter Ansporn für das Bayerische Staatsorchester, sich im Orchestergraben ebenso motiviert mit der Partitur des international beliebten Klassikers auseinanderzusetzen wie die seit Saisonstart um Perfektion in kniffliger Beinarbeit und kessen Körperkicks ringenden Rollenträger. Münchens Ballettchef Igor Zelensky kennt Bonino eine halbe Ewigkeit. Als Tänzer, und dann war er unter dessen künstlerischer Leitung in Nowosibirsk und Moskau tätig. 2012 brachten sie Petits „Coppélia“ beim Ballett des Stanislawski und Nemirowitsch-Dantchenko-Theater heraus. Seit Anfang September begeistern und fordern ihn die jungen Tänzerinnen und Tänzern des Bayerischen Staatsballetts heraus.
„Das Timing, die musikalischen Akzente müssen absolut stimmen“, klärt Bonino auf. „Man muss Humor und Temperament haben. Das Publikum zum Weinen zu bringen, ist leicht, komische oder ironische Partien zu tanzen, dagegen wesentlich schwieriger.“ Petit war ein lustiger, humorvoller Mensch, der natürlich auch unangenehm werden und gepfefferte Dinge sagen konnte, erzählt Bonino. „Anspruchsvoll und sehr fordernd, das war er. Im Umgang mit sich selbst sowie seinen Tänzern und Mitarbeitern gegenüber.“
35 Jahre hat Luigi Bonino eng mit Roland Petit zusammengearbeitet. Ab 1984 als dessen Assistent. „Er hat mir eigentlich alles beigebracht! Ihm so lange derart nahe zu sein, war enormes Glück – und eine unglaubliche Chance. Ich durfte alles machen: Varieté, Singen und unzählige Charaktere in seinen Balletten übernehmen.“ Eine Leidenschaft, die Luigi nach Petits Tod vor acht Jahren weiterhin umtreibt.
Den skurrilen, einsamen Puppenmacher Dr. Coppelius – eine Paraderolle, die Petit sich zur Uraufführung des Balletts im Pariser Théâtre de la Porte Saint-Martin selber auf den Leib choreografiert hat – interpretiert Bonino zunächst höchstselbst. Nach zwei Aufführungen übernimmt Münchens Erster Solist Javier Amo, der Bonino auch bei den Proben zur Seite stand. Als Swanilda und Franz wirbeln Virna Toppi mit Denis Vieira (beide neu in der Kompanie) und Laurretta Summerscales mit Yonah Acosta reichlich Emotionen auf. Nur Coppélia, die Puppe, bleibt in jeder Lebenslage entspannt.
Wie alt er gerade geworden ist, sieht man Bonino nicht an. „Ich bin 70, fühle mich aber wie 30. Mein Herz ist immer noch jung!“ So reist er weiterhin fast rastlos für Einstudierungen von Petits Choreografien durch die Welt. Derzeit stehen London, Mailand, Palermo, Tokio und die kasachische Hauptstadt Astana (Nursultan) auf seiner Agenda. Das Gepäck für Palermo, Japan und Kasachstan: der im Moment enorm nachgefragte Abendfüller „Coppélia“.
Als das Ballett der Pariser Oper Petit 1970 die Direktion anvertraute, machte dieser einen Rückzieher und entschied sich stattdessen für die Leitung des Casino de Paris. Die glamourösen Shows, die er dort für Zizi Jeanmaire herausbrachte, machten Furore. Heute verwaltet die gemeinsame Tochter Valentine das choreografische Erbe. Parallel zum Revuetheaterbetrieb formte Petit ab 1972 in Marseille eine Kompanie nach seinen ästhetischen Vorstellungen, die modernen Chic mit dramatischer Leidenschaft bündelte. Einflüsse zeitgenössischer Künstler und Modeschöpfer wurden aufgegriffen. Menschen aus Fleisch und Blut verliehen – vergleichbar Petits frühen Hauptwerken „Le jeune homme et la mort“ oder „Carmen“ – ihren Problemen und Gefühlen kraftvoll Ausdruck.
Dass in Petits „Coppélia“ kein Platz für graziles, romantisches Dornröschengehabe ist, macht Bonino spielerisch deutlich. „Auf der Bühne geht es zu wie im richtigen Leben. Wir packen beherzt zu, scharren unsere Schritte regelrecht in den Boden. Dabei verwendet Petit ausschließlich die klassische Technik. Ausgehend von dieser Basis hat er einen absolut einzigartigen Stil entwickelt.“
Demonstrativ richtet Bonino seine Hände und Füße zueinander aus. „Die Tänzer arbeiten ständig an ihrem ‚en dehors‘. Dann komme ich und will Einwärtsdrehungen. Petit verlangt entweder das eine oder das andere. Ein Dazwischen gibt es nicht. Nach zwei Probentagen spüren alle ihre Muskeln an den Außenseiten der Beine.“ Bonino schätzt das Werk aber noch aus einem anderen Grund: „An dem Tag, als ich 1975 mit einem Halbsolistenvertrag ins Ballet national de Marseille eintrat, begannen wir mit der Produktion. „Coppélia“ war mein Anfang mit Roland Petit.“