Die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren. Das Programm des Wiener Staatsballetts wurde bereits im Rahmen des Spielplanpräsentation der Wiener Staatsoper vorgestellt. Das Ensemble steht in den Startlöchern und das Konzept für die Ballettakademie vor dem Abschluss. Im tanz.at-Interview spricht Martin Schläpfer über diese und andere Themen, coronabedingt natürlich nur telefonisch.
Am 1. September ist Martin Schläpfer nicht mehr designierter, sondern tatsächlicher Chef des Wiener Staatsballetts. Wie die Saison anläuft, hängt allerdings vom Fahrplan für die Wiedereröffnung der Theater nach dem Corona-Lockdown ab, den die österreichische Bundesregierung gerade diskutiert.
Beim Ballett am Rhein, wo Schläpfer zur Zeit noch Ballettdirektor ist, stehen die TänzerInnen jedenfalls nach Wochen des Online-Trainings seit zwei Wochen wieder im Ballettsaal. Die tägliche Tänzerroutine wurde sorgfältig organisiert, mit mehreren Trainingseinheiten für etwa 7 Personen auf genau markierten Plätzen um den Abstand, den die Corona-Maßnahmen vorschreiben, einhalten zu können. Bei aller Distanz sei es für die TänzerInnen toll, gemeinsam und in einem Studio mit Schwingboden zu trainieren, sagt Schläpfer.
Veränderungen im Ensemble
Den Großteil der SolistInnen in allen Rängen beim Wiener Staatsballett wird man auch unter der neuen Direktion wieder erleben können. Einige der „Neuen“ folgen Martin Schläpfer von Düsseldorf nach Wien. Zum Beispiel der Erste Solist Marcos Menha. Der Brasilianer studierte an der Akademie des Tanzes in Mannheim und absolvierte eine Karriere vom Corpstänzer zum Ersten Solsiten beim Ballett des Badischen Staatstheaters Karlsruhe, beide unter der Leitung von Birgit Keil. 2011 wechselte er zum Ballett am Rhein und wurde 2016 mit dem Deutschen Tanzpreis „Zukunft“ ausgezeichnet. Die Schweizerin Claudine Schoch tanzte in renommierten Compagnien wie dem Bayerischen Staatsballett, beim Semperoper Ballett Dresden, von 2011 bis 2018 im Ballett am Rhein und zuletzt im Ballett Basel unter der Leitung von Richard Wherlock. Nun kommt sie als Erste Solistin nach Wien.
Erstmals gibt es die Kategorie „Senior Artist“. Mit Yuko Kato besetzt eine Langzeittänzerin von Martin Schläpfer diese Funktion. Der bisherige Erste Solist des Wiener Staatsballetts, Roman Lazik, ist Katos männlicher Counterpart.
Als Solist kehrt Francesco Costa, der bereits bis 2019 Mitglied des Wiener Staatsballetts war, zurück. Aleksandra Liashenko und Daniel Vizcayo, beide waren zuletzt beim Ballett am Rhein, kommen neu ins Ensemble. Darüberhinaus wurden 22 neue HalbsolistInnen und CorpstänzerInnen engagiert.
tanz.at: Herr Schläpfer, auffallend und außergewöhnlich sind beim Ballett am Rhein die unterschiedlichen TänzerInnentypen. Wird das in Wien auch so sein?
Martin Schläpfer: Ich suche etwas ähnliches, natürlich nicht in diesem Extrem, was die Körpertypen angeht. Weil wir doch die klassischen Handlungsballette – und darauf freue ich mich auch – gut tanzen wollen. Da gibt es gewisse Gesetzmäßigkeiten, und diese gilt es einzulösen. Auf der anderen Seite weiß ich noch, als ich jung war und 1977 an der Royal Ballet School studiert habe, war das Royal Ballet voller enormer und extremer Persönlichkeiten. Da gab es den kleinen Wayne Sleep, oder David Wall , Monica Mason, Lynn Seymour, Leslie Collier … Ganz anders als heute, und trotzdem war es eine hochklassische Compagnie. Ich glaube, dass beides zu vereinen ist.
Es stehen ja hinter den Tänzer/innen Menschen, Persönlichkeiten und Psychen, es ist das alles, warum sie uns als Darsteller begeistern - nicht nur ihr schöner Körper. Es geht auch nicht alleine um das Athletische. Das kann natürlich toll sein, aber es berührt uns, das auf der Bühne, was wir auch in uns selbst finden, was wir auch in uns selbst als Zuschauende in uns tragen, wieder finden. Man sitzt im Zuschauerraum und wird von Dingen angesprochen, die man selbst denkt, fühlt oder bemerkt. Dafür braucht es „richtige“ Menschen, die natürlich überzüchtete Tänzer sind, aber gleichzeitig unaustauschbar. Was uns berührt, ist das künstlerische Geheimnis, diese menschliche Komponente. Schlussendlich ist es zum Glück etwas Unerklärbares, was einen Darsteller vom anderen trennt.
Die Hierarchie beim Wiener Staatsballett ist für Sie neu. Wie werden Sie damit umgehen?
Die Compagnie in Düsseldorf war unter Youri Vámos und Heinz Spoerli noch hierarchisch, aber ich fand, dass die Compagnie dafür zu klein ist. Ich habe dann alle zu Solisten gemacht.
Sie haben recht, das ist ein Aspekt, der neu für mich sein wird. Auf der anderen Seite, für die Größe und aufgrund der Geschichte dieses Ensembles, ist es sicher richtig so. Die Frage ist immer, wie durchtränkt sich so eine Hierarchie, wie verbindet sie sich. Sogar in den Firmen werden heutzutage die Hierarchien horizontaler. Das heißt nicht, dass es keinen Chef gibt oder keine Erste Solistin, aber dass man sich vielleicht nicht so unglaublich absetzt. Künstler gibt es auch im Corps de ballet. Im besten Fall sind das die späteren Solisten und daher war es mir so wichtig, das Corps de ballet zu stärken. Bei Kreationen geht es darum, dass man ein gutes Stück macht und nicht nur, dass der Erste Solist jetzt ein Solo oder einen Pas de deux bekommt. Natürlich muss man das auch ein Stück weit mitdenken. Es gibt aber auch in den Solistenensembles wie dem Ballett am Rhein eine unausgesprochene Hierarchie, es gibt Künstler zu denen hat man eine größere Affinität als zu anderen, auch da gibt es eben auch die Stars – und die anderen
Wie gut kennen Sie die TänzerInnen des Wiener Staatsballetts? Es kursiert das Gerücht, dass sie nicht in den Ballettsaal durften, wenn Sie in Wien waren.
Ich bin mehrmals im Ballettsaal gewesen, sowohl in der Volks- wie in der Staatsoper allerdings nicht so früh, wie ich es gerne hätte wollen. Ich habe mit jeder Tänzerin und jedem Tänzer Gespräche geführt, das hat vorher noch niemand gemacht. Auch mit dem Team. Ich war bei einigen Produktionen und Vorstellungen in der Staatsoper und in der Volksoper. Ich hätte sicher gerne früher ansetzen wollen, weil ich doch eine Doppelbelastung hatte, in Düsseldorf/Duisburg als künstlerischer Direktor und als Gastchoreograph und in Stuttgart (wo sein Ballett „Taiyō to Tsuki“ am 22. Februar zur Uraufführung kam, Anm.)
Sie haben ca. ein Viertel des Ensembles neu besetzt. Dennoch kursiert auch das Gerücht, dass Sie weniger TänzerInnen behalten wollten. Einige konnten die Nicht-Verlängerung des Vertrages rückgängig machen. Stimmt das?
Es gibt TänzerInnen und Tänzer, die gegen die Nicht-Verlängerung vorgehen. Diese Sachen sind noch nicht abgeschlossen. Ich habe aber absolut das Team, das ich wollte.
Es muss vielleicht auch einmal gesagt werden: Der Tänzer-Beruf ist in der Regel zeitlich bedingt! Und das gilt es zu akzeptieren. Natürlich ist es im Einzelfall eine Herausforderung, aber jeder Tänzer muss das mitnehmen. Ein Intendantenwechsel, und ich bin natürlich auch Choreograf und nicht nur Ballettdirektor, muss hier seine künstlerischen Entscheidungen treffen dürfen – seine Kunstvision verteidigen dürfen - das ist überlebenswichtig für jede Kunst und jeden Kunstanspruch.
Apropos: In Ihrer ersten Saison wird es zwei Uraufführungen von Ihnen geben, zu Musik von Gustav Mahlers vierter und Dimitri Schostakowitschs 15. Symphonie. Was verbindet Sie mit diesen Komponisten?
Wien ist eine grandiose Musikstadt und es gibt niemanden, der Mahler besser spielen kann als das Orchester der Wiener Staatsoper, das ja in Personalunion das Weltklasseorchester der Wiener Philharmoniker bildet. Und da Mahler sehr wichtig war für dieses Haus, lag es eigentlich auf der Hand, dort zu suchen, zumal ich mit Mahlers 7. bereits eine große Arbeit gemacht habe. Es hat aber auch mit „Live“ zu tun, diesem Videoballett, das Hans van Manen noch niemanden gegeben hat außerhalb des Dutch National Ballet. Da ist nur eine Tänzerin und eine Pianistin auf der Bühne. Die Tänzerin wird dann gefilmt, wie sie durch den Zuschauerraum ins Foyer tritt, dort einen Danseur Noble trifft, mit ihm einen Pas de deux tanzt und danach ins nächtliche Wien entschwindet. Das ist ein sehr reduziertes, wunderbares Ballett und da wollte ich einfach als zweites Stück das Gegenteil machen, etwas groß Angelegtes mit Bühnenbild: Mahlers Vierte, eben wegen des Orchesters, aber auch, weil das ganze Wiener Staatsballett, auch die TänzerInnen der Volksoper mit dabei sein werden.
Und Schostakowitsch?
Schostakowitsch ist der musikalische Bogen an dem Abend mit Alexei Ratmanskys „Bilder einer Ausstellung“ von Mussorgski und dem Frauenballett von Balanchine zu Strawinskys „Symphony in Three Movements“. Die 15. ist eine grandiose Symphonie, mit Tiefgang, aber auch schillernd, lauernd, aber nicht so zynisch und bitter wie andere Musik von Schostakowitsch. Rein musikalisch schien es mir richtig sie hier zu platzieren, und sie ist wieder ein Meisterwerk für die Musikerinnen und Musiker. Außerdem war meine letzte Uraufführung beim Ballett am Rhein das 2. Cellokonzert von Schostakowitsch und ich verweile gerne ein bisschen, um zu lernen und den Komponisten besser zu verstehen. Es gibt an diesem Abend aber darüber hinaus sehr viele Querverbindungen. Ich arbeite mit Keso Dekker, dem berühmten Ausstatter, der auch häufig mit Ratmansky und van Manen zusammenarbeitet. Wendy Whelan hat als Tänzerin Ratmanskys Stück kreiert und ich hoffe, dass sie es auch in Wien einstudiert. Und sie war eine wichtige Tänzerin von Balanchine. So hat der Abend einfach viele Fäden, die durchgehen. Auch wenn man das gar nicht bemerkt oder bemerken soll, es ist alles fein durchdacht.“
Die Musik ist für Sie häufig Inspiration, Motivation oder Ausgangspunkt für Ihre Kreationen. Haben Sie die Wiener Philharmoniker auch ein bisschen gelockt, nach Wien zu kommen?
(Lacht.) Also, die ganze Kunstmetropole Wien, die einzigartig dasteht in dieser Welt und ein eigener Kosmos ist, auch aus der Historie heraus, die hat mich natürlich gelockt ebenso die großartigen Künstler, die hier arbeiten. Aber Bogdan Roščić ist letztendlich derjenige gewesen, der auf mich zukam. Ich habe das nicht gesucht oder geplant - im Gegenteil, ich hatte gerade einen Teilzeit-Vertrag mit dem Ballett am Rhein bis 2024 unterschrieben. Also war es schon Bogdan Roščić, der mich überzeugt hat.
Im Frühjahr letzten Jahres wurden Sie bereits mit einer Krise konfrontiert, als Missstände an der Ballettakademie (BAK) bekannt wurdent. Sie haben nach dem Bericht der Unabhängigen Sonderkommission, die die Vorwürfe geprüft hat, ein internationales Gremium einberufen und wollten einen Neustart. Mussten Sie die Pläne verschieben? Wird die Schule im Herbst einen neuen Direktor, eine neue Direktorin, haben?
Ja, natürlich, , wir sind bald vor dem Abschluss. Wir sind wöchentlich dran. Das ist ganz wichtig. Leider hat sich auf Grund der aktuellen Situation coronavirusbedingt alles etwas verzögert aber wir werden noch vor dem Sommer wissen, wie es weitergeht.
Wie wichtig ist Ihnen die Schule?
Sie ist mir unglaublich wichtig. Bevor ich Choreograf wurde, habe ich ja unterrichtet, hatte fünf Jahre sogar meine eigene Ballettschule in Basel. Ich unterrichte seit nun genau 30 Jahren, 1990 habe ich damit begonnen. Mit der künstlerischen Leitung der BAK tut sich für mich als Ballettdirektor ein wunderbares neues Terrain auf, eines, welches zu integrieren mich nicht nur sehr freut, sondern inspiriert und fordert. Es ist ein neuer Aspekt in meinem Aufgabenfeld, den ich bis jetzt noch nicht hatte – und um den ich immer schon John Neumeier mit seinem Ballettzentrum in Hamburg beneidet habe. Dieses ganze Thema ist etwas Wunderbares: den jungen Menschen diese Kunst näher zu bringen, aber auch den Eltern. Das ist publikumsbildend, weil es Wissen fördert. Es geht nicht immer nur darum, ob jetzt jeder ein Tänzer wird. Die Situation an der BAK hat mich natürlich belastet, aber die Schule per se ist etwas, das mit ausschlaggebend für mich war, um nach Wien zu kommen. Jetzt gilt es, die Schule ins 21. Jahrhundert rüberzubringen. Natürlich muss einiges investiert werden, allein mit transparenterer Kommunikation und einer anderen Atmosphäre kann das nicht gemacht werden. Aber da hat man sich auch sehr deutlich dazu bekannt. Es ist jetzt sicher keine einfache Zeit, um Forderungen zu stellen, aber da bin ich guter Dinge.
Wir arbeiten mit Hochdruck und viel Intensität an Lösungen. Alles braucht seine Zeit! Ich weiß, viele warten und sind unsicher, aber man muss jetzt wirklich alles solide aufbauen und vorbereiten. Die Schule wird beobachtet und wenn die Neuausrichtung nicht richtig gemacht wird, ist es vorbei. Ich bin mir der Verantwortung bewusst. Es muss jetzt alles Hand und Fuß haben, sonst kann es eine Katastrophe geben – und die öffentliche Wahrnehmung unserer Kunst leidet noch mehr Schaden. Es liegt aber auch jetzt an der Politik, wie sie die Weichen für uns zu stellen gewillt ist.
Man muss aber mit dazu sagen, dass ein solcher Erneuerungsprozess und Strukturwandel nicht in zwei bis drei Monaten abgeschlossen ist, es wird zwei bis drei Jahre dauern. Das geht nicht schnell - den Grundsatz kann man schneller realisieren, aber danach braucht es Zeit, denn da ist schon einiges aufzuholen. Darum war es mir so wichtig, und auch Bogdan Roščić, dieses Expertenteam von erfahrenen Schulleiterinnen und -leitern einzuberufen, die die Gesamtsituation grundsätzlich anders und von außen analysieren. Nach dem Bericht der unabhängigen Sonderkommission wäre es zu wenig gewesen, einfach eine neue Direktion zu ernennen, um schnellstmöglich zum Tagesgeschäft überzugehen.
Bogdan Roščić will das Haus öffnen um Leute zu erreichen, die bisher vielleicht keinen Zugang zur Oper hatten. Wollen Sie das auch für das Staatsballett? Und wie?
Sicherlich ist das auch mein Anliegen. Es wird Werkstätten, Einführungsveranstaltungen, Tanzpodien geben, um auf das Publikum und die am Tanz interessierten Menschen zuzugehen Dazu gehört auch die offene Klasse am Samstagnachmittag: für Leute, die das als passioniertes Hobby machen oder TänzerInnen der freien Szene. Ich glaube, dass man bei einem Neuanfang – und das ist er ja zumindest ein Stück weit, selbst wenn ich sehr viel bewundere, respektiere und übernehme, das etabliert worden ist – das Neue, Andere kommunizieren will, im Austausch sein will.
Der Ballettclub Wiener Staatsoper und Volksoper geht in das Staatsballett über. Wie ist das zu verstehen?
Ingeborg Tichy-Luger (Präsidentin des Ballettclubs der Wiener Staatsoper und Volksoper, Anm.) bleibt die Botschafterin, aber der Ballettclub geht unter das Dach der Staatsoper ein und ist somit kein außenstehender Verein mehr. Ich glaube, wir sind da auf einem sehr guten Wege – mit dem Programm für Mitglieder werden wir auf jeden Fall viel Interessantes offerieren können.
Werden Sie unter den TänzerInnen auch den choreografischen Nachwuchs fördern?
Ja, ich möchte eigentlich ab der zweiten Spielzeit eine Plattform Choreografie etablieren im Spielplan der Volksoper. Wir sind da mit Robert Meyer in Gesprächen, dass man die choreografische Nachwuchsförderung auch unter das Dach des Staatsballetts bringt und dramaturgisch und budgetär begleitet.
PS
Das Ballett am Rhein stellt Martin Schläpfers „Forellenquintett“, eine Produktion von ZDF/ARTE, bis 13. Juni 2020 kostenlos über operamrhein.de zur Verfügung
Weitere Beiträge zu Martin Schläpfer auf tanz.at:
Martin Schläpfers erste Wiener Spielzeit
Schläpfer: „Choreograph sein heißt auch, ein Magier zu sein“