Sol Léon ist eine stille und zugleich entschlossen-resolute Frau. „Ich liebe die Kraft ‚nein‘ zu sagen“, schwärmt sie und hat im Gespräch sofort in ihrer Intensität ganz unterschiedliche Betonungsvarianten dieser aus ihrer Sicht enorm wichtigen Meinungsäußerung parat. Eine Verletzung am Bein macht ihr gerade körperlich zu schaffen. In den Proben bleibt sie dennoch mit ihrem Blick und später eindringlich erklärend bei den Korrekturen ganz nah an den Tänzerinnen und Tänzern dran. „Die Künstler brauchen diese intensive Zeit mit uns.“ Sie meint „Choreografen“, sagt „Creators“. „Weil die Tänzer diesen direkten Kontakt mit uns – mit unserer Dualität – haben, wird man in keinem Stück etwas vermissen. Beide Ballette hier – das ist wie eine Wiedergeburt.“
Mehr als 35 Jahre lang haben Sol Léon und Paul Lightfoot das Nederlands Dans Theater maßgeblich mitgeprägt. Ihre Karrieren als Tänzer begannen beide unter Jiří Kylián in dessen Den Haager Juniorkompanie NDT II. Schnell rückten sie ins Hauptensemble NDT I auf. 1989 begründeten der Brite und die Spanierin das Choreografen-Duo Léon/Lightfoot: eine gleichberechtigte, kreative Partnerschaft. Gemeinsam kreierten sie mehr als 60 Stücke für die berühmteste zeitgenössische Kompanie der Niederlande, deren Leitung Lightfoot 2011 übernahm – mit Léon als künstlerischer Beraterin. Freischaffend arbeiten sie nun seit 2020. Ihr zweiteiliger Ballettabend „Schmetterling“ ist die erste Zusammenarbeit der beiden Künstler mit dem Bayerischen Staatsballett.
Keine Handkrümmung, keine Körperverdrehung, an deren interpretatorischer Farbe und Qualität nicht gefeilt wird. Auf die höchst energiegeladene, aber leicht verwackelte Männersolo-Passage folgt ein strenger Kommentar: „Nimm‘ dir Zeit! Die Schwierigkeit liegt hierin – wie willst Du damit umgehen?“ Unsere Arme können eine Textur wie Wasser oder Luft haben, erklärt Léon, „vergleichbar einem Vogel oder einem Delphin“. „Stell Dir vor, Du wirst zu Bronze“, haucht sie Eline Larrory fast balsamisch zu. Diese verinnerlicht das Gesagte und wiederholt die gerade besprochene Bewegungssequenz mit frappant tieferer Strahlkraft. Dabei hat die 20-jährige Französin erst letzten Sommer ihre Ausbildung abgeschlossen. In München tanzt sie seit Spielzeitbeginn – und wurde prompt in ihrer ersten Arbeitswoche für eine der Hauptrollen ausgewählt.
Paul Lightfoot ist ein komplett anderer Menschenschlag. Er nutzt die Probensequenz, um zu einer weiter hinten im Saal abseits übenden Gruppe zu sprinten. Dort greift er, begleitet von Gelächter, helfend ein. Am Ende steht er plötzlich vor der sich Notizen machenden Zuschauerin und schüttelt ihr herzlich die Hand: „Hi, I am Paul“. Einen Atemzug später sieht man ihn durch die Tür verschwinden. Die Stimmung im Studio bleibt konzentriert und irgendwie familiär locker. Dabei strotzt jede der zahlreichen solistischen beziehungsweise Duett-Einheiten vor technisch kniffeligen Herausforderungen. Unglaublich modern nimmt sich das Bewegungsvokabular aus. Und unsere individuell starken Tänzer – allen voran Laurretta Summerscales als „Old Lady“ in „Schmetterling“ – kommen einem völlig verwandelt und in ihren Charakteren grandios umgekrempelt vor. Von der enorm beredten Emotionalität, die hier bereits mimisch und gestisch ebenso reich wie theatralisch aufgeladen ausgespielt wird schier geblendet, verlässt man den Saal.
Im Interview umschreibt Sol Léon die schöpferische Zusammenarbeit als die zweier Gehirne – eines männlichen, eines weiblichen – in einem Haushalt, wo jeder genau weiß, was er am besten kann. „Paul hat diesen Push, diese Stärke – er bewegt, schiebt Dinge an, wirft sie um. Ich bin viel ruhiger, brauche meine Zeit, mag keinen Lärm im Raum, will es auf meine Weise machen. Eine Botschaft zu vermitteln ist stark in meiner Persönlichkeit angelegt. Paul hingegen geht einen Pas de deux ‚very sophisticated‘ – technisch sehr anspruchsvoll – an. Er liebt das, weiß aber auch, dass ich die Bedeutung und den Grund für den wortlosen Dialog beisteuern werde. So haben wir stets alles kombiniert. Es wurde nur schwerer, als wir uns privat trennten. Da kam die Unsicherheit mit in den Raum hinein, Verletzlichkeit in der Situation.“
Jedes ihrer spannungsgeladenen Ballette gleicht folglich einem Amalgam all dieser charakterlichen Gegensätze, die sie letztlich famos zu einer stilistischen und inhaltlich dramatischen Einheit zu formen wissen. Im Vorfeld kannte Léon weder Laurent Hilaire, Münchens noch neuen Ballettchef, noch dessen Vorgänger. Igor Zelensky war eigens nach Holland gekommen, um zu fragen, ob sie Interesse an einer Zusammenarbeit hätten. „Ausschlaggebend für mich war, dass ich eine Verbindung zur Stadt hatte. Wohl 1989 tanzten wir im Nationaltheater Kyliáns ‚Sinfonietta‘. Kylián war damals mein Direktor und die Vorstellung mir daher sehr wichtig. Ich erlebte das Haus als bedeutend und habe das so in Erinnerung behalten. Aus diesem Grund haben wir zugesagt – trotz großem Risiko und der Strenge, die wir normalerweise walten lassen, wenn wir eine Arbeit hergeben.“
Seit Ende Februar studieren Léon und Lightfoot gemeinsam und unterstützt von fünf Ballettmeistern aus ihrem Team erstmals die zwei sehr persönlichen Werke mit einem neuen Ensemble ein. Inspirationsquelle für das 2005 uraufgeführte „Silent Screen“ war die dem Tanz anverwandte nonverbale Verständigung in Stummfilmen und Friedrich Wilhelm Murnaus 1927 in Amerika gedrehtes Liebesdrama „Sonnenaufgang – Lied von zwei Menschen“. Auf der Bühne kommen Aufnahmen vom Meer, einem Wald und einem Innenraum zum Einsatz. Tänzer und Film verschmelzen. Obwohl sie sich keinesfalls als Geschichtenerzähler sehen, wurde dem Stück ein Storyboard zu Grunde gelegt, dass ein Paar zu Musik von Philip Glass traumartig verschiedene Phasen einer Beziehung durchleben lässt.
„Unsere Tochter, die da im Bild durch den Wald läuft, war damals sechs Jahre alt. Nun ist sie 24 und gehört derselben (Frauen-)Generation wie die Tänzerin Eline Larrory an. Als diese das Studio betrat, sah ich sie zum ersten Mal. Sie zog mich an – ich hätte meine Tochter sehen können, die jetzt Schauspielerin ist. Es machte ‚blink‘. Ihre Frische und ihre Offenheit inspirierten mich.“ Dass Larrory ganz neu im Ensemble war, erfuhren sie erst danach. „Auch auf Laurretta zu treffen war wunderbar. Sie ist außergewöhnlich. Nicht viele Tänzerinnen können die alte Frau tanzen.“ Léon wusste genau, nach was sie Ausschau hielt. „Hat man die wesentlichen Charaktere beisammen, ergibt sich der Rest von selbst. Die Zauberformel lautet ‚Chemie‘.“
„Bei ‚Silent Screen‘ dachten wir, es sei an der Zeit, das Werk wieder aufzugreifen. Es ist 18 Jahre alt und über die Jahre wertvoll und exquisiter geworden ist.“ So kann ich eine Zeitbrücke zwischen den Generationen zu schlagen. Außerdem rückt ‚Silent Screen‘ die Weiblichkeit in den Fokus – auf eine sehr poetische Art und Weise. Und ich liebe die drei Stadien des weiblichen Lebens, vom Mädchen über die Mutter bis hin zu einer alten Dame. Das findet auch in ‚Schmetterling‘ seinen Ausdruck.“
Diese zweite, dem Premierenabend titelgebende Arbeit „Schmetterling“ entstand 2010. Es geht darin um die Beziehung einer Mutter zu ihrem Sohn. „Wir entschlossen uns zur Wiederaufnahme in einer schwierigen Phase, als Paul und ich unsere Eltern verloren. Ich fühlte, dass meine Mutter gehen würde. Da wird man als Kind zum Erwachsenen über ein Elternteil. Das wiederfährt jedem.“ Die große Klammer dieses Abends – das Leben in seiner Vergänglichkeit, die Transformation, der Tod aber auch neue Lebenskraft – hat kein Verfallsdatum.
"Schmetterling", Premiere mit dem Bayerischen Staatsballett am 31. März 2023 im Nationaltheater