Wie sie wirkt, ist sie nicht. Wie sie ist, sieht man nicht. Die kühle Blonde aus St. Petersburg schwebt über die Bühne als wäre sie nicht aus Fleisch und Blut. Doch Olga Esina ist mit ihrem Image als unnahbare Schönheit gar nicht einverstanden. "So bin ich nicht". Im September muss sie als heftig verliebte Julia auch auf der Bühne ganz irdische Gefühle zeigen.
Elegant und unnahbar, nahezu überirdisch wirkt Olga Esina auf der Bühne. Ob als Dornröschen oder in John Neumeiers "Bach Suite III", scheint sie aus anderen Sphären hoch über dem Boden zu schweben. Doch nach der Vorstellung begegnet man einer jungen warmherzigen Frau voller Leben, die herzlich lachen und sich mit den Kolleginnen über eine gelungene Vorstellungen freuen kann. Olga Esina kann die beiden Welten recht gut trennen. Sie hält nichts davon, die Irreale des Tanzes mit der Realen des Lebens zu vermischen. Märchenhaft dort, lebendig und ganz irdisch da.
Zum Abschluss der vergangenen Saison überraschte die Esina als dunkelhaarige Schöne, die einen armen Künstler provoziert, verführt, zurückweist, in den Tod treibt und sich schließlich selbst als Tod zu erkennen gibt. „Le Jeune Homme et la Mort“ von Roland Petit nach dem Libretto von Jean Cocteau mit Olga Esina und Kirill Kourlaev war die Sensation der Nurejew Gala 2012. „Das ganze Stück dauert nur 15 Minuten, aber danach bin ich so erschöpft, als hätte ich zwei Stunden getanzt.“ Nicht nur die Schrittfolgen dieses expressionistischen „Mimodrame“ (wie Cocteau das herausragende Werk der Ballettliteratur bezeichnet hat) seien überaus schwierig und ungewohnt, sondern auch die Rollengestaltung: „ Das bin ich ja nicht. Ich bin nicht der kalte Tod, ich bin voller Emotionen, auch wenn ich das nicht immer zeige.“
Manchmal gehen die Emotionen mit Olga Esina auch auf der Bühne durch. Als sie in Wien das erste Mal die Julia getanzt hat – „Ich war viel zu jung und wusste nicht, wer ich sein sollte. Ich habe das damals einfach ‚irgendwie’ getanzt“ – war sie so überwältigt, dass sie auf der Bühne weinen musste. „Aber das ist falsch. Das Publikum soll weinen, nicht ich. Wir sollen ja nicht mit unserer Seele tanzen, sondern mit dem Körper ausdrücken, was wir mitteilen wollen.“ Was die private Olga Esina fühlt und denkt, geht niemanden etwas an, schon gar nicht das Publikum im Saal, das mit Julia lieben und leiden soll.
Nach gut zweieinhalb Jahren kommt die Tragödie wieder auf die Bühne. Olga Esina nähert sich neuerlich der Kindfrau, die sich kopfüber in die Liebe stürzt und es fällt ihr wieder schwer. „Ich bin ja auf der Bühne nicht gerade so ein verspieltes Mädchen“. Sieht man die Esina ganz in Gedanken wie abwesend über den Gang zum Probensaal schweben, dann sieht man die Königin der Dryaden („Don Quixote“) oder Myrta, die Königin der Willis („Giselle“) oder Titania, die Feenkönigin („Sommernachtstraum“). Sie traut es sich nicht auszusprechen, doch ihr Erscheinungsbild entspricht mehr einer Königin als einem gegen die Eltern revoltierenden Teenager. Die äußere Ruhe, die vor Konzentration gerunzelte Stirn, der mitunter strenge Blick, lassen Olga Esinas Jugend nicht ahnen. Nur wenn sie lacht und die dunkelblauen Augen erstrahlen, dann erkennt man, dass die Ballerina erst süße 25 ist.
Schon vor dem Sommer haben die Proben für John Crankos „Romeo und Julia“ begonnen, denn nach den Ferien, die durch Gastauftritte und Dreharbeiten für das Neujahrskonzert, so lang nicht sind, „sind nur noch zwei Wochen Probenzeit. Das ist wenig, ich würde gerne drei, vier Wochen haben“, meint sei und verspricht (sich) „diesmal werde ich die Rolle bewusst tanzen. ich muss einen Weg finden. Aber dazu brauche ich Hilfe. Von Manuel Legris und den Probenleitern.“ Die Solopartien trainiert sie mit Alice Nescea, ist aber auch allein eine ehrgeizige Perfektionistin. „Jetzt noch mehr als früher“, gesteht sie und ist sicher, dass sie mit dem Status einer Ersten Solotänzerin beim Wiener Staatsballett noch lange nicht ihren Zenit erreicht hat. „Es geht immer noch höher und noch besser.“
Nicht nur ihren eigen Ruhm trägt sie bei Gastauftritten in die Welt, sondern auch den der Compagnie: „Dass Manuel uns beurlaubt, wenn es möglich ist und sich auch selbst um Gastspiele kümmert, ist sehr gut. Wir brauchen auch die Auseinandersetzung mit anderen Bühnen und Kollegen.“ Auch wenn es so schwierig ist wie in Rom, wo Esina kürzlich in einer Open-Air-Vorstellung die Doppelrolle der Odette /Odile in „Schwanensee“ getanzt hat. „Da ist die Bühne etwas schräg gebaut, das haben wir zwar in St. Petersburg auch gehabt, aber jetzt bin ich sechs Jahre hier und habe das Gefühl vergessen. Automatisch verändert sich die Haltung wenn die Bühne ansteigend ist, das muss mit Konzentration ausgeglichen werden.“ Mit Verve betont sie, dass die unnachahmliche Leichtigkeit des Seins, ob als Dornröschen oder in einer abstrakten Choreografie, täglich neue Arbeit und Konzentration bedeutet: „Wenn das Publikum Schweiß und Anspannung nicht sieht, ist es gut. Es soll genießen, aber nicht an unsere Füße denken.“ Wenn dann, wie in Italien, „vier- bis fünftausend Menschen leidenschaftlich applaudieren, dann ist das ein unbeschreibliches Glücksgefühl. Oft kann ich danach nicht schlafen, so aufgeregt bin ich.“
Julias Romeo wird in der ersten Vorstellung der neuen Saison Roman Lazik sein. So schwer kann es Esina nicht fallen, sich den Donnerschlag der Liebe auf den ersten Blick zu ertanzen, hat sie diesen doch schon selbst erlebt. Noch keine 18 war sie, als sie sich in ihren Kollegen verliebte und auch stante pede heiratete: „In Russland ist das üblich, man heiratet schnell, so mit 17, 18 Jahren, das ist keine Seltenheit. Allmählich ändert sich das, junge Frauen schauen nach Europa und haben es mit der Ehe auch nicht mehr so eilig.“ Dass sie zu jung für eine dauerhafte Bindung war, musste sie bald feststellen. „Es ist für mich auch nicht gut, Tag und Nacht mit einem Tänzer zusammen zu sein. Ich brauche auch die andere Welt draußen.“ Deshalb hat Olga Esina jetzt einen Gefährten, der gar nichts mit Tanz zu tun hat, aber in jeder Premiere bewundernd im Saal sitzt und ihr auch gerne zuhört, wenn sie von der Arbeit erzählt. Doch generell gibt es zu Hause und im Freundeskreis andere Themen als das Ballett: „Dieses Herumtratschen und andere ausrichten, mag ich gar nicht. Aber hier bin ich in einer guten Compagnie, ich spüre keine Eifersucht und keinen Neid. Legris weiß genau, wo er uns einsetzt. Auch wenn wir zu fünft sind als Erste Solotänzerinnen, ist jede anders.“ Und jede unnachahmlich.
„Romeo und Julia“, Ballett von John Cranko, Musik Sergej Prokofjew, 14., 19., (Olga Esina / Roman Lazik); 17., 21.9. (Maria Yakovleva/ Robert Gabdullin) Wiener Staatsoper.
Der Beitrag basiert auf dem Porträt von Olga Esina im Schaufenster der "Presse", vom 31. August 2012