Mit der Fusion der Ballettensembles von Staatsoper und Volksoper hat er sich arrangiert, aber der Vorwurf er sei ein Leuteschinder trifft ihn hart, verlangt Manuel Legris doch von seiner Compagnie nicht mehr als von sich selbst: Intensives Training für eine perfekte Vorstellung. Im Oktober gibt es die erste Premiere dieser Saison: „Der Nussknacker“ in der Inszenierung von Rudolf Nurejew.
Schneeflocken im Oktober. Manuel Legris, Ballettchef an der Wiener Staatsoper, hält es mit den Lebkuchenbäckern: Weihnachten wird vorgezogen. Bereits im Oktober liegen die Geschenke unter dem Christbaum, tanzen die Flocken im Winterwald, entführt der Prinz die kleine Clara ins Märchenland und macht sie zur Frau. Das klassische Ballett schlechthin, „Der Nussknacker“, ist heuer die erste Premiere der Saison. „Das muss sein“, sagt Legris. „Ich brauche einen Knalleffekt zu Beginn. Die Choreografie von Rudolf Nurejew war noch nie in Wien zu sehen. Sie ist wunderbar, der Inhalt sehr psychologisch aufbereitet, aber sehr schwer zu tanzen, auch für das Corps de ballet. Wir müssen beweisen, dass wir das können und werden an den Erfolg von ‚Don Quixote’ anknüpfen.“
Dieser Erfolg des ebenfalls von Nurejew neu choreografierten Klassikers macht Legris sicher: „Das Publikum wird auch dieses Ballett lieben. “ Sogar wenn die Version von Nurejew, in der Legris selbst mehrfach die Doppelrolle Drosselmayer / Prinz getanzt hat, eher eine Liebes- als eine Weihnachtsgeschichte erzählt. An „Rudi“ wird nicht gekratzt. Nurejew war sein Mentor, hat als Ballettchef in Paris Legris 1986 zum „Danseur Étoile“ erhoben und ihm die großen klassischen Partien im Repertoire der Opéra Garnier anvertraut. Der Jahrhunderttänzer ist für Manuel Legris mehr als ein Vorbild. Deshalb hat er es sich auch zur Aufgabe gemacht hat, das choreografische Erbe des Tanzstars hoch zu halten und rollt verständnislos die Augen, wenn er auf seinen Hang zur Ballettnostalgie angesprochen wird. Den Vorwurf, lieber zurück als nach vorn zu schauen, will er nicht gelten lassen. „Man kann doch nicht alles zugleich machen. Zuerst muss ich ein solides Repertoire aufbauen, das Publikum erobern, die Compagnie und die Solisten bekannt machen. Die Leute kommen nicht in unbekannte Ballette. Entweder sie kennen das Ballett oder die Ballerina. Sie brauchen Namen. Wenn wir einen haben, werden auch die interessanten, jungen Choreografen kommen und mit dem Staatsballett arbeiten. Schritt für Schritt will ich dahin kommen.“
Argumente gegen den Verdacht der permanenten Restauration kann Legris dennoch aus dem Programm der vergangenen wie der aktuellen Saison aufzählen: „Wir tanzen wieder die ‚Meisterwerke des 20. Jahrhundert’ und bringen in den ‚Tanzperspektiven’ Choreografien von David Dawson, Helen Pickett, Jean-Christophe Maillot und Patrick de Bana. Außerdem wird in der Volksoper ein Abend unter dem Motto ‚Kreation und Tradition’ Premiere haben, an dem junge Choreografen mitwirken werden und auch auf ,Blaubarts Geheimnis’ von Stephan Thoss (ebenfalls in der Volksoper) freue ich mich. Dieses Ballett wurde erst voriges Jahr in Wiesebaden uraufgeführt. Mehr geht nicht. Ich kann nichts gegen das Publikum machen.“
Kritisieren, so meint er, sei leicht. Gerne würde er von jenen, die dauernd kritisieren, Ideen annehmen. „Wenn ich Choreografen nach Stücken frage, dann bieten sie mir vorhandene Ballette an, aber sie wollen (noch) keine neuen Stücke für Wien kreieren. Dazu ist das Staatsballett noch zu wenig bekannt.“
Auf das Niveau, das die Compagnie unter seiner Direktion erreicht hat, ist Legris dennoch mehr als stolz. „Ich darf das sagen, wir haben ein hohes Niveau erreicht, das bestätigen uns auch die Erfolge im Ausland . Die Begeisterung, die wir in Japan erlebt haben, hat uns bestätigt. Auch in Paris war der Applaus heftig und ehrlich. Aber ich bin erst zwei Spielzeiten hier, man kann da nichts übers Knie brechen.“
Mit der Doppeldirektion Staatsoper/Volksoper hat er nicht wirklich Freude : „Ich arrangiere mich, aber die beste Lösung ist das nicht. In Wien ist so viel anders, das habe ich erst lernen müssen. Auch, dass in die Volksoper ein ganz anderes Publikum kommt, habe ich nicht bedacht. ‚Le Concours’ war vielleicht ein Fehler, das ging gar nicht. Ich muss das Programm noch verbessern. Mit ,Carmina Burana’ ist es gelungen. Der Abend ist professionell und intelligent gemacht, immer ausverkauft. Damit bin ich zufrieden, das Publikum braucht Titel. Ich mag es ohnehin nicht wenn Ballett zu intellektuell ist. Der bewegte Körper steht im Mittelpunkt, nicht der Krampf im Kopf.“
Respekt und Vertrauen. Den Krampf bekommen die Tänzerinnen möglicherweise in den Waden, schont doch Legris weder sich selbst noch seine Compagnie. Schon mehren sich Anzeichen für der Wiener liebstes Spiel, das Direktoren madig machen oder gar abschießen. „Legris der Workaholic, Legris der Leuteschinder“, wird da hinter vorgehaltener Hand lautstark getuschelt. Da flammen Blitze des Unverständnisses aus den blauen Augen des Direktors: „Tänzer müssen tanzen. Damit sie das können, müssen sie arbeiten. Wir sind jetzt auf dem Weg nach oben, haben exzellente Solisten und Solistinnen, für jeden Charakter die richtige Kapazität. Wir haben auch im Ausland Erfolg gehabt. Das geht nur mit harter Arbeit. Meine Tänzer sehen das auch so. Ich höre keine Beschwerden. Dabei war es ja ein Schock als ich gekommen bin, ist doch der Großteil der Compagnie in der Waganowa-Methode ausgebildet worden. Ich liebe die russische Schule und sie dürfen behalten, was sie gelernt haben. Niemals würde ich sagen: ‚So geht das nicht.’ Was den französischen Stil ausmacht, zum Bespiel die Geschwindigkeit, gebe ich ihnen dazu. Unsere Basis ist Respekt und Vertrauen.“ So leicht kann Legris die Buschtrommeln in Wien nicht überhören, immer wieder kommt er darauf zurück: „Man muss arbeiten, sonst gibt es keinen Erfolg. Und den wollen wir haben. Schritt für Schritt werden wir die Spitze erreichen. Dazu gehören auch Gastspiele im Ausland, mit denen wir schon große Erfolge feiern durften.“
Ein weiteres Klatschthema scheint jetzt vom Tisch zu sein: Legris flüchtet nicht nach Paris. Brigitte Lefèvre, die allmächtige „Directrice de la Danse de l’Opéra de Paris“, hat mit der Ernennung des Maître de Ballet Laurent Hilaire zum Co-Direktor wohl auch ihren Nachfolger bestimmt. Auch Hilaire ist ein Jünger Nurejews, nahezu gleich alt wie Legris, nahezu zur gleichen Zeit zum Étoile gekrönt. Auf die Gerüchte, dass er Wien nur als Sprungbrett benütze, ist Legris nie eingegangen. Mit diplomatischem Charme versichert er: „Ich bin jetzt hier Direktor, und das will ich gut machen. Was nachher kommt, darüber mache ich mir keine Gedanken.“ Ein Blick auf die Uhr, ein Sprung von der Bank und einmal noch muss es gesagt werden: „Ohne harte Arbeit gibt es kein gutes Ballett. Weder ein klassisches noch ein modernes.“
„Der Nussknacker“, Choreografie von Rudolf Nurejew, mit Liudmila Konovalova und Vladimir Shishov, Premiere in der Wiener Staatsoper am 7. Oktober 2012.
„Carmina Burana“ am 28., 30.9; 2., 11., 21. 10.; 12.11. 2012, Volksoper Wien
Der Feature-Artikel ist am 13. September 2012 in der "Schaufenster"-Beilage der Tageszeitung "Die Presse" erschienen.