„Ohne Tanz kann ich mir ein Leben nicht vorstellen.“ Was sich die Tänzerin und Choreografin Milli Bitterli vorstellen möchte, klingt traumhaft: „Ich kann durch mein Leben tanzen, dass es für jeden Moment im Leben eine Bewegung gibt.“ Darauf wird noch zurück zu kommen sein.
Vorerst wird die kleine Milli beobachtet, wie sie mit vier ihre ersten Tanzschritte macht und die Aufnahmsprüfung in der Ballettschule der Wiener Staatsoper besteht. Wo sie so eifrig trainiert, dass sie sich verletzt und ein Jahr am Rand sitzend den anderen zuschaut und daraufhin mit ihrem Lehrer, Oprea Petrescu, ans Konservatorium der Stadt Wien (heute „Kons.Uni“) wechselt, wo gerade eine eigene Abteilung für klassischen Tanz eingerichtet worden ist. Doch lange hält es die junge Dame auch dort nicht aus: „Es war die Zeit als der Jazztanz en vogue war, da wollte ich dabei sein. Zu lauter, wilder Musik mich schnell bewegen.“ Die neuen Bewegungsformen verändern den Körper – Dornröschen ade. Milli Bitterli verlässt Wien, reist durch die Welt, studiert Tanz in allen Formen und fällt auf. Ihre Studium bei anerkannten Lehrerinnen und Lehrern geht nahtlos in Engagements bei renommierten Compagnien über. 1999 ist sie wieder in Wien, scheinbar aus dem Nichts aufgetaucht. An ihre erste öffentliche Choreografie (gezeigt 1980 bei der „Großen Chance“ im TV) kann sich niemand erinnern. Da war sie auch erst elf. Jetzt aber holt sie so richtig Schwung, den Abflug erleichtert ihr die Veränderungen der Szene durch das 2001 eröffneten Tanzquartier. Zwei Jahre ist sie dort künstlerische Trainingsleiterin. Unterrichten ist ihr auch heute noch wichtig. Mit ihrer Erfahrung in Jazz Tanz, Modern und dem Balletttraining, hatte sie alle Techniken im Leib und kann sie, engagiert und einfühlsam, weitergeben. Gleichzeitig gründet sie die Compagnie „artificial horizon“ und wird mit Solo-, Gruppenauftritten und Choreografien auch der tanzaffinen Öffentlichkeit sichtbar.
Keine Schublade passt. Einmal Bitterli auf der Bühne gesehen und man weiß, diese Tänzerin ist nicht einzuordnen. Keinem Genre, weder Performance, Tanztheater oder konzeptuelle Choreografie, nicht physical Theatre, Modern oder New Dance, Hip-Hop oder Jazz ist die Künstlerin zuzuordnen. Ihr Bewegungsrepertoire ist so vielfältig wie eindrucksvoll, so reichhaltig wie überraschend. Lediglich „Milli Bitterli“ passt da als Etikett. Die Tänzerin ist unvergleichbar, als Ehefrau (verheiratet mit dem er Performancekünstler und Coach Frans Poelstra) und Mutter von Lotte, 8, und Fanny, 5, steht sie dennoch ganz fest auf dem Boden des (getanzten) Alltags.
Ordnen, organisieren, präzisieren, sich nicht dem Zufall ausliefern, Strukturen durchschauen und benützen, gehört ebenso zum Leben wie zur Kunst der Milli (Mathilde) Bitterli. Wir erinnern uns: Sie möchte durch ihr Leben tanzen (der Umkehrschluss muss zulässig sein: auch durch das Tanzen leben). Der oft gehörten Ansicht, „Jede Bewegung ist Tanz und jede kann es“, kann Bitterli nur die mit funkelnden Augen gestellte Frage entgegen schleudern: „Aber was für ein Tanz?“ Dass sie mit der Arbeit für „alles bewegt“, eines Tanz-Projekts für alle Alters- und Bevölkerungsgruppen im Festspielhaus St. Pölten, 1012/13 Freude und Erfolg gehabt hat, verschiebt die Grenze zwischen Tänzerinnen und Tanzlustigen nur marginal.
Denken mit dem Kopf, tanzen mit dem Körper. Verschoben hat sich der Begriff der Choreografie: „Hat man früher nach der Form gesucht, so sucht man jetzt das Denken.“ Milli Bitterli denkt tanzend und tanzt denkend. Philosophie hat sie jedoch nicht studiert, sondern Wirtschaft. Das aber nur nebenbei und nicht fertig. „Tanzen erzeugt ein anderes Denken. Wenn man während des Schreibens tanzen würde, entstünden andere Sätze als unbeweglich sitzend. Jede Bewegung verändert das Denken und das verändert wieder die Bewegung.“ Eine funkelndes Oszillieren zwischen Tanzen und Denken. Dieses Denken, „das aus dem Tanz über den Tanz spricht“ möchte sie auch hörbar machen. Deshalb wird in dem Stück „Walk and Talk“ auch geredet. Nicht, um Mängel der Körpersprache auszugleichen, sondern um dieses spezielle Denken mitzuteilen. Die Sprache kann für sie auch das Bühnenbild oder „große Objekte“ ersetzen, um Abstraktes konkret zu machen. Dass Bitterlis Tanz auch überaus poetisch ist, zeigen die Titel ihrer Kreationen. Ihr erstes Stück, im „dietheater“ (jetzt „brut“) gezeigt, heißt „außer mir“. So programmatische wie nahe gehende Titel folgen: „unwesentlich anders“, „Die Verschleuderung des Ich“, „my hobby is my destiny“, „can you feel my hard beat?“, „Have you ever been close to a human?“, …
Dass man ihrem Tanz (ihrer Choreografie) – lyrisch, sanft und voll Humor, dann wieder funky, im Stakkato und nahezu brutal – die darunter liegende Theorie und die ununterbrochene Denkarbeit nicht ansieht, ist ihr Anliegen und Bemühen: „Mein Tanz soll lesbar sein.“ „Lektoriert“ werden ihre Stücke daher von außen, dem Künstler Jack Hauser. „Der Jack ist mein Kunstpartner. Er kommt nicht vom Tanz und sieht deshalb oft mehr. Wenn ich mich in gewisse Passagen verliebe, zeigt er mir was wirklich wichtig ist.“
Eine Frage, die Tänzerinnen und Choreografinnen immer wieder beschäftigt, hat Bitterli zu einem eigenen Projekt gemacht: „Was bleibt?“ „Tanz ist so flüchtig, kaum gezeigt, ist die Bewegung schon wieder vorbei, sie kann nicht festgehalten werden.“ Auch wenn sich der Tanzkörper auf der Bühne oft als Skulptur präsentiert, ist er keine. Er verändert sich, verfällt sogar, stößt an seine Grenzen. Die Antwort findet Bitterli tanzend. Seit 2004 arbeitet sie daran, ihr Leben zu tanzen. „Diese Choreografie hört nie auf. Es ist ein Bewegungspool mit dem ich mich der Vergänglichkeit stelle. Als ich mit vier zu tanzen begonnen habe, konnte ich mir nicht vorstellen, jemals nicht zu tanzen.“ Nun ahnt sie bereits, dass dieser Wunsch ein Traum ist. Zugleich will sie Menschen, die klagen Tanz nicht zu verstehen, damit vertraut machen. „Das hat mich bewegt, Leute in ihren Wohnungen zu besuchen, nur für sie zu tanzen, und zu schauen, ob ihnen dadurch der Tanz näher kommt.“ Damit es bleibt, tanzt Bitterli die Sequenzen live auf der Bühne zu den von Jack Hauser gefilmten, zwei /drei Minuten langen Wohnzimmer-Performances. Das von der Tänzerin selbst geschnittene Video ist inzwischen auf anderthalb Stunden angewachsen, die Choreografie „Was bleibt“ hat kein Limit.
Immer wieder sucht Bitterli Orte, „wo Bewegung nichts Selbstverständliches, eine Art von Risiko ist.“ So hat sich auch das Hospiz in Mödling gefunden, wo sie vor Sterbenskranken getanzt hat. Vergänglichkeit diesseits und jenseits der imaginären vierten Wand. „Es geht aber ums Leben in diesem Projekt, nicht ums Sterben. Ohne Tanz wäre ich dort nicht hingekommen. Die Frage war, welche Bewegung ist da möglich? Wenn man sagt, alles ist möglich, dann stimmt das nicht. Es gibt Orte, wo nicht jede Bewegung möglich ist. Im Probenraum ist es kein Problem, auf dem Boden zu liegen, im Krankenzimmer fühlt sich jede Bewegung anders an.“ Milli Bitterli tanzt „ um an neue Orte zu kommen, an Orte, „wo ich sonst nie hinkomme.“ Unbekannte Orte, konkret wie das Hospiz, oder abstrakt, in einem fernen Paradies.
Milli Bitterli: „Was bleibt?“, Ausschnitt aus dem Langzeitprojekt im Rahmen von „Passagen Passagiere“ im Museums Quartier / Durchfahrt (TQW Studios) 10., 17., 24.9. 2013