Anspruchsvoll, überraschend, aber auch witzig und wunderschön werden seine Choreografien beschrieben. Als Märchen erzählt man sich die Blitzkarriere des bodenständigen Appenzeller Bauernbuben Martin Schläpfer zum international gefeierten Tänzer, Choreografen und Ballettdirektor. Mit seinem „Ballett am Rhein“ kommt Martin Schläpfer nun zum ersten Mal nach Österreich und gastiert im Festspielhaus St. Pölten.
Begonnen hat das Märchen auf dem Eislaufplatz von St. Gallen. Ein 15jähriger kurvte und sprang dort selbstversunken zu Beethovens 5. Sinfonie. Die Tanzpädagogin Marianne Fuchs sah den Teenager weniger auf dem Eis als auf der Ballettbühne und lud den Buben ein, in ihr Studio zu kommen. Vom ersten Moment an war der Bub elektrisiert. Tanz sollte sein Leben werden. An die Diskussionen zu Hause erinnert er sich mit Schmunzeln und lacht mit dem Publikum im Schweizer Talkshow-Studio herzlich mit, wenn der Moderator Kurt Aeschbacher verschmitzt andeutet, dass die Vorbehalte der Eltern wohl nicht nur mit den Verdienstmöglichkeiten eines Tänzers zusammen hingen. Keine zwei Jahre später erhielt Martin Schläpfer den angesehenen Prix de Lausanne für junge Tänzer samt einem Stipendium für die Royal Ballet School in London. „Mut und Individualität“ wurden schon dem 17jährigen beschieden, die Eltern begruben ihre Ängste. Martin wurde von Heinz Spoerli ans Stadttheater Basel engagiert und macht Furore. Mit 30 gründete er in Basel eine Ballettschule. Von der Erfahrung als Lehrer zehrt er immer noch. Die erste Sprosse auf der Leiter zum Ballettdirektor betrat er mit 35 in Bern. 1999 als ihn sein Landsmann Georges Delnon nach Mainz holte, startete die Karriererakete in Deutschland und flog mit der Verleihung des höchsten Choreografie-Preises, dem Prix Benois de la Dance, über alle Grenzen. Seitdem überschlagen sich die Kritikerinnen und sprechen vom „Mirakel Martin Schläpfer“. Ja, er ist einzigartig in dieser manchmal doch sehr oberflächlichen und mittelmäßigen Ballettwelt – ehrlich, unbestechlich, integer, blitzgescheit und außerdem ein wirklich großer Künstler!
Humor heißt nicht lustig zu sein. Der Hymnus aus seiner unmittelbaren Umgebung macht ihn selbst weder überheblich, noch befreit er ihn von den immer wieder hoch kommenden Selbstzweifeln. Der Humor allerdings gehört zu seinen Grundeigenschaften und setzt sich auch in den Choreografien immer wieder durch: „Humor zu haben, heißt ja nicht lustig zu sein oder sein zu wollen und funktioniert nur, wenn das Gegenteil mit dabei ist – der Zweifel, die Trauer und der Schmerz integriert sind … jeder gute Clown weiß um das Gegenteil von Lustigsein. Humor zu haben heißt auch zu akzeptieren, dass man Vielem gegenüber machtlos, klein ist – ein Mensch eben …“ Das Menschliche, den Menschen sucht Schläpfer auch in seinen Tänzern / seinen Tänzerinnen: „Ich mag es, das jeder Tänzer anders sein darf. Natürlich muss ein /e Tänzer/in (sic!) passioniert sein, musikalisch, hart an sich arbeiten wollen. Aber was mich vor allem inspiriert, ist eine psychische Offenheit, Grenzen auszulosten, zu erweitern – Mut zu haben, nicht bürgerlich zu sein … intelligent – und sie oder er muss interessiert am Heute, an der Welt sein.“
"Tanz ist nie abstrakt." Doch Schläpfer ist kein Romantiker, auch wenn er „sehr wohl romantische Gefühlsregungen“ hat und „ich sie auch phasenweise lebe.“ Immer erzählen seine Choreografien Geschichten und oft stehen Frauen im Mittelpunkt. Für den Künstler „gibt es nichts Abstraktes im Tanz, weil es immer Menschen sind, die da draußen auf der Bühne tanzen. Aber ich mag Handlungsballette nicht sonderlich. Ich erzähle sicherlich Geschichten, baue Dramaturgien –aber in den seltensten Fällen sind die Geschichten konkret. Es geht mehr um Energien – Kopfarbeit – Auseinandersetzung mit Inhalten, den menschlichen Themen – Psyche, Archetypen. ... Ein ,Romeo und Julia’-Ballett zu choreographieren war für mich – bis jetzt zumindest – nie ein Thema oder gar ein Wunsch.“
Erster Besuch in Österreich. Das Programm für das erste Österreich-Gastspiel hat er gemeinsam mit Festspielhaus-Intendantin Brigitte Fürle ausgesucht. „Unbedingt wollte sie die „Ungarischen Tänze“ zeigen – so habe ich gesucht, was eventuell ein gutes und auch anspruchsvolles Programm werden könnte.“ Dazugestellt hat Schläpfer zur rasanten, witzigen Choreografie mit politischen Bemerkungen zur Musik von Johannes Brahms zwei ebenfalls hochgelobte Werke: „Drittes Klavierkonzert“ (Konzert für Klavier und Streichorchester von Alfred Schnittke) und das Solo „Ramifications“ zum gleichnamigen Stück von György Ligeti. Seine Choreografien beginnt Schläpfer „immer mit der Musik, fast immer. Das heißt nicht, dass ich mich der Musik unterordne. Ich suche immer nach einer Parallelwelt zur Musik, möchte ihr eine Ebene auf der Bühne dazu stellen, sie nicht nur ,vertanzen’. Das wäre mir zu wenig. Es kommt aber immer darauf an, in welcher Phase eine Choreografie entstanden ist, auch ich verändere mich ziemlich oft, hoffentlich aber nie, ohne dass es dazu eine – künstlerische, gedankliche – Begründung gibt.“ Überzeugt ist er, dass dem Publikum zeitgenössische Musik zuzumuten ist: „Die muss mindestens zu einem Drittel Bestandteil meiner Planung sein. Wir leben heute! Ich möchte mich mit der Musik von heute auseinandersetzen. Das muss eine Selbstverständlichkeit sein. Nein, dass es ein Risiko darstellt, finde ich nicht. Aber es ist immer noch erschreckend, wie wenige Menschen bereit sind, sich auf das Neue einzulassen.“ Sich auf Neues einzulassen, ist eine der vielen sympathischen Eigenschaften Schläpfers. Das Tanzen hat er, wenn auch nicht gänzlich, aufgegeben, um neue Ziele anzupeilen: „Ich habe etwas gesucht – wusste nicht was. Müde zu tanzen war ich nie. Am freiesten ist man als Tänzer. Nicht als Choreograf und schon gar nicht als Direktor, der auch noch Chefchoreograf ist. Es zu werden war nie ein Traum oder Wunsch von mir – ich bin da hineingewachsen. Tänzer sein ist much more beautiful –natürlich nur, wenn man ein wirklicher Künstler ist – und sein darf. Dann ist der nach-kreierende, der interpretierende Akt nicht weniger groß, als wenn man das Stück selber kreiert.“ Immer wieder rutschen Schläpfer in seinen Antworten englische Ausdrücke dazwischen, ein Folge der internationalen Truppe die er am Rhein (an den Opernhäusern von Duisburg und Düsseldorf) leitet.
Auf Berlin verzichtet. Die Nachfolge Vladimir Malakhovs als Intendant des Staatsballetts Berlin hat er ausgeschlagen: „Mir ging es zu langsam. Es dauerte viel zu lange, bis man in die notwendigen regelmäßigen Gespräche kam – in die Tiefenschichten. Immer wieder wurde ich vertröstet. Das ist eine derart wichtige und verantwortungsvolle Aufgabe und Position – dass ich für die Verhandlungen alleine Monate gebraucht hätte. Es geht ja nicht nur um mich – es geht um die Zukunft des Tanzes, der Ballettkunst.“ Doch Voraussagen über die Zukunft des Balletts will und kann der Gefeierte nicht treffen, wie sich Schläpfer überhaupt ungern auf Spekulationen und Statements einlässt: „Ich glaube, dass das Ballett ein europäisches Kulturphänomen ist. Es wird immer leben – aber es braucht Tanzschaffende, die wirklich wissend sind – und brennen dafür –das genügt aber noch nicht – a bit of genius is necessary, etwas Außergewöhnliches.“ Die Beschreibung seiner höchsteigenen Tanzsprache würde er „lieber anderen überlasen.“ Die Frage, so scheibt er in der Mailkorrespondenz, „ist für mich unmöglich zu beantworten. Es stimmt allerdings nicht oder nur sehr bedingt, dass ich neoklassisch arbeite – oder wenn, dann nur ab und an aus einem starken Grund heraus.“ Und was das Publikum so elektrisiert an seinen Choreografien, beantwortet er ebenfalls mit einem stillen Blick ganz nach innen: „It’s very difficult.“
Martin Schläpfer: Ballett am Rhein, 22.2. 2014, Festspielhaus St. Pölten.
Die urprüngliche Fassung des Interviews wurde für die Tageszeitung "Presse" erstellt und ist am 21. Februar im Schaufenster erschienen.